Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Stimme mit Zweifeln abgeben. Denn er weiß: Es könnte sein, daß die anderen es richtiger sehen. Ich trage unsere Politik hier vor, werbe für sie und hoffe auf eine Mehrheit, weil mich unter all den Argumenten, die ich gehört habe, die unseren am ehesten überzeugen. Doch Anmaßung, Selbstgerechtigkeit und billige Polemik liegen mir fern. Das ist etwas für Dummköpfe. Ich kann nicht ausschließen, daß sich eines Tages als Fehler herausstellen wird, was wir vorhaben. Wir handeln nach bestem Wissen und Gewissen. Doch nicht ohne Zweifel, und mit Respekt vor dem, was uns entgegengehalten wird. Die Dinge, die eine menschliche Gemeinschaft betreffen, sind so komplex und unübersichtlich, daß es keine Gewißheiten geben kann. Das müssen wir uns eingestehen, und diese Einsicht sollte uns im Umgang miteinander stets leiten. Das verlangt die Würde dieses Hohen Hauses.« Was wäre das für ein anderes Klima! Niemand würde den Ton abschalten wollen.
Neben der Anerkennung von Ungewißheit gehört zur intellektuellen Redlichkeit die Anerkennung von Tatsachen. Vor allem von moralisch bedeutsamen Tatsachen. Deshalb gehen wir gegen fehlende Wahrhaftigkeit sogar rechtlich vor: Leugnung von Völkermord etwa stellen wir unter Strafe. Selbst wenn niemand direkt darunter zu leiden hätte: Das geht nicht , es ist unerträglich . So wollen wir nicht leben. Wir empfinden Ekel davor, und es ist der Ekel fehlender Würde.
Auch Aberglaube kann uns als etwas stören, was mit der Würde in Konflikt gerät. Viele Hotels haben kein 13. Stockwerk. Die Zahl bringt Unglück. Man lächelt im Fahrstuhl und vergißt es. Doch für einen Augenblick kann es einen unangenehm berühren. Warum? Weil so überhaupt nichts für diese Mär spricht. Ja, und? Was stören kann, ist etwas Allgemeines, das in dem lächerlichen kleinen Beispiel steckt: daß die Idee von Gründen nicht ernst genommen wird, die Idee eines Grundes als etwas, was die eigene Überzeugung verändern kann und auch verändern sollte. Es geht nicht, Beliebiges zu glauben! , möchte man vielleicht ausrufen . Und dieses Prinzip hat etwas mit dem Willen zur Wahrhaftigkeit zu tun. Denn die Idee eines Grundes ist die Idee von etwas, was die Chance erhöht, daß wahr ist, was man glaubt.
In Spielcasinos gibt es Leute, die Tage und Wochen dasitzen und sich die Zahlen aufschreiben. Wohin die Kugel später fällt, hat damit, wohin sie früher fiel, nicht das geringste zu tun. An ordentlichen, nicht manipulierten Roulettischen gibt es kein System zu entdecken. Jeder Lauf ist wie der allererste. Der Fanatismus derer, die da sitzen und schreiben, ist schwer mit anzusehen: Der Aberglaube bringt die Würde in Gefahr.
Man kann die Würde von jemandem beschädigen, indem man ihn zu Aberglauben verleitet. Lourdes ist ein Beispiel. Lourdes ist ein Alptraum. Nicht nur wegen des Kitschs und des Kommerzes, die wie erstickende Schwaden über dem Ort hängen. Das Schlimmste sind die ungezählten Gelähmten und Behinderten, denen man wundersame Heilung versprochen hat und die nach diesem letzten Strohhalm greifen. Es gibt, was man Spontanheilungen nennt. Das sind seltene Heilungsprozesse mit bisher unbekannten Ursachen. Vielleicht spielt auch ein seelisches Geschehen eine Rolle. Doch gesegnetes Wasser heilt keine zerstörten Nervenbahnen. Das weiß man. Es gibt nicht den geringsten Grund, das Gegenteil anzunehmen. Jemandem etwas anderes vorzugaukeln, beschädigt seine Würde.
Neben mangelnder intellektueller Redlichkeit, Lügen und Aberglauben gibt es noch eine weitere Art, die Würde im Sinne der Wahrhaftigkeit zu beschädigen: durch dummes Geschwätz, dem jeder innere Bezug zu den Tatsachen, zu Wahrheit und sogar zu Falschheit fehlt. Ich meine nicht Unsinn wie »Der gestrige Sonntag war besser als der heutige« oder wirres Zeug wie »Von Lissabon nach New York kann man bequem zu Fuß gehen«. Es geht nicht darum, daß das Gesagte keinen Sinn hat. Es geht darum, daß es dem Sprechenden, obgleich seine Worte einen Sinn haben, gar nicht um die Tatsachen geht, von denen sie zu handeln scheinen. Und nicht nur diese Tatsachen sind ihm egal, sondern alle Tatsachen. Wie bei Howard, Willy Lomans Chef. Er erklärt ihm, daß er nicht weiterhin als Vertreter seiner Firma auftreten darf.
LOMAN: Howard, schmeißt du mich raus?
HOWARD: Ich glaube, Willy, du brauchst Erholung. Eine längere Zeit richtig guter Erholung.
LOMAN: Howard –
HOWARD: Und wenn’s dir besser geht, kommst du wieder, und dann sehen wir, was
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