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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Würde.
    Die Grenzen, die eine persönliche Identität ausmachen und über die Selbstachtung bestimmen, können moralische Grenzen sein. Dann sind es Grenzen, die Rücksichtnahme bedeuten und sich aus dem Kampf gegen Grausamkeit ergeben. Aber vielfach sind es Grenzen, die zu überschreiten nicht unmoralisch wäre und niemandem schaden würde. Und doch könnte man sich nicht mehr achten, würde man sie verletzen.
    Es könnte sein, daß Bernhard Winter, dem wir früher schon begegnet sind, ein Wissenschaftler ist, der Aufklärung und Rationalität verpflichtet, ungeduldig gegenüber Aberglauben und auch voller Verachtung dafür. Nun wird er krank. Unheilbar, wie ihm die wissenschaftliche Medizin versichert. Da wird ihm von einer Wunderheilerin berichtet. Ihre Methode kann nach rationalen Maßstäben nicht funktionieren. Es ist keine offene Frage, ob sie es kann. Sarah und seine Freunde drängen ihn, es trotzdem zu versuchen. »Es kann doch nichts schaden , und schließlich geht es doch um dein Leben, also um alles !«, sagen sie zu ihm. »Nun habe ich ein Leben lang an Belege, Wissenschaft und Rationalität geglaubt: Jetzt werde ich doch nicht plötzlich purem Aberglauben nachlaufen!«, sagt Winter. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« »Aber ist es denn nicht vernünftig , in diesem Fall alles zu versuchen?« »Nein, denn es gibt nicht den geringsten Grund , an einen Erfolg zu glauben. Genausogut könnte ich Gras essen. Und wenn ihr sagt, es könne doch nichts schaden, so ist das falsch: Es würde meiner Selbstachtung schaden.«
    Die Symptome werden heftiger, die Schmerzen nehmen zu. Winter geht heimlich zu der Adresse der Wunderheilerin. Er geht vor dem Haus auf und ab. Er ist kurz davor zu klingeln. Er tut es nicht. Würde ihn jemand nach den Empfindungen fragen, die ihn abhalten, würde er vielleicht sagen: »Ich hätte das Gefühl, einen Verrat zu begehen. Einen Verrat an mir selbst. Ich hätte das Gefühl, mich damit zu verlieren . Und damit auch meine Würde zu verlieren.« Vielleicht tut er es am Ende doch. Er läßt das besprochene Wasser über sich ergehen, die Bachblüten, die aufgelegte Hand, das Gemurmel. Nachher, auf der Straße, gäbe er viel darum, es nicht getan zu haben. »Aber es ist noch nichts passiert !«, sagt Sarah, als er ihr verstört davon erzählt. »Oh, doch«, sagt Winter, »es ist viel passiert. In mir. Hätte ich nur zu mir gestanden ! Ich komme mir so fremd vor!«
    Wir können uns den umgekehrten Fall vorstellen: Sarah wird krank. » Klar gehe ich dahin!«, sagt sie. »Warum nicht? Keine Dogmen, auch nicht solche der Wissenschaft! Ich habe einen offenen Geist. Ausprobieren! Schlimmstenfalls war es ein verlorener Nachmittag. Und wer weiß …« Sie kommt zurück. »Gott, ist das eine verschrobene Person! Und die düsteren Räume! Aber irgendwie war es auch ganz lustig …« Er guckt sie an. Sie kennt diesen Blick. »Selbstachtung verloren? Keine Spur. Wenn ich eine Revolution und ihre Ideale verraten hätte – dann vielleicht. Aber doch nicht wegen einer solchen Lappalie!«
    Das Beispiel zeigt: Die Grenzen, die zu überschreiten den Verlust der Selbstachtung bedeutet, sind von der betroffenen Person gesetzt. Es geht beim Urteil über Selbstachtung und Würde nicht um die Grenzen, die ein fremder Betrachter setzt. Was zählt, sind die selbstgesetzten Grenzen. Was für mich unverträglich mit der Selbstachtung ist, muß es nicht auch für andere sein. Nichts, was einer tut, ist in dieser Lesart von Würde in sich würdelos. Die Frage der Würde stellt sich immer nur bezogen auf ein Selbstbild und die Grenzen, die es dem Tun setzt.
    Es kann uns anders erscheinen. Jean-Claude Romand, der Jahre auf Parkplätzen, in Cafés und in den Wäldern des Juras verbringt, verspielt durch eine gigantische Lebenslüge seine Würde im Sinne der Wahrhaftigkeit. Verspielt er sie nicht auch im Sinne der Selbstachtung? Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, er zu sein. Auch deshalb nicht, weil wir zu spüren meinen: Der muß doch so voller Verachtung für sich selbst sein, daß es nicht auszuhalten ist. Wir sind ganz sicher , daß er mit seinen Lügen und der vertanen Zeit seines Lebens seine Selbstachtung verloren hat. Wollen wir hier im Ernst sagen: Das hängt davon ab, wie er selbst sich sieht? Gibt es nicht doch so etwas wie einen objektiven Maßstab für Selbstachtung?
    Ähnlich mag es uns gehen, wenn wir krassen Fällen von Opportunismus begegnen: Jemand macht mit Kitschfilmchen über den

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