Eine begehrenswerte Lady
dem Lumpensammler hätten gegeben werden können … oder weggeworfen. Letzte Woche hatte Gillian gesehen, wie Nan das alte blaue Kleid mit den Flicken, das sie immer zum Unkrautjäten im Garten angezogen hatte, aus einer Truhe holte, und hatte lachen müssen.
»Das hätte doch wirklich dortbleiben können, oder? Ich bezweifle, dass ich es jemals wieder anziehen werde – und gewiss nicht hier.«
»Allerdings, und die hier gleich mit«, hatte Sophia gesagt und verstimmt die alten Schuhe angeschaut, die sie immer zum Eiersammeln im Hühnerhaus getragen hatte. »Ich bin sicher, unser Onkel wird nicht von uns erwarten, dass wir Eier sammeln oder im Gemüsebeet Unkraut jäten.«
Gillian war nach Charles’ Tod nicht vollkommen mittellos gewesen, aber die beiden letzten Jahre waren alles andere als angenehm gewesen. Bis auf das Häuschen und einer kleinen Apanage war von Charles’ Besitz nicht viel übrig geblieben, sodass Gillian rasch gelernt hatte, jeden Pfennig zweimal umzudrehen. Es war nicht genug gewesen, um die gesamte Dienerschaft zu halten, die Charles immer als für seinen Rang notwendig angesehen hatte. Und bis auf Nan und ihre beiden Söhne, den vierzehnjährigen James und den sechzehnjährigen John, waren alle Dienstboten entlassen worden. Seine Pferde, Kutschen und die Londoner Wohnung waren veräußert worden, um Charles’ Spielschulden zu zahlen, und das eingenommene Geld hatte kaum dafür gereicht. Sie erschauerte. Wenn Winthrop seinerzeit die Schuldscheine hervorgeholt hätte, die Charles ihm gegeben hatte …
Gillian schob den bedrückenden Gedanken beiseite und schaute sich um. Es war ein reizender Raum, in dem sie saß: Die Wände zierte eine cremefarbene Tapete mit Goldmuster, ein Eichenbüfett voller Zinntabletts und versilberten Geschirrs stand an der anderen Wand und ein dicker in Blau, Gold und Elfenbein gewobener Wollteppich lag auf dem Boden. Sie schüttelte den Kopf. Das Landhäuschen war ein nettes Heim für einen Gentleman mit bescheidenem Vermögen, aber es war nicht zu vergleichen mit dem Luxus von High Tower, und sie fand die Veränderung in ihren Lebensumständen höchst erfreulich. Erst vor ein paar Wochen hatte sie sich Sorgen gemacht, ob das Wurzelgemüse im Keller und das Korn und das Heu im Stall reichten, um den Winter über die Hühner, die Kuh und das Schwein zu füttern. Heute hingegen … sie blickte sich noch einmal im Zimmer um und lächelte.
Gillian stellte ihre Kaffeetasse ab und sagte leicht ironisch:
»Wenn ich bedenke, wie sehr sich unser Leben zum Guten gewendet hat, frage ich mich fast, ob ich Canfield nicht danken sollte, dass er versucht hat, mich zu erpressen.«
Sophia schnaubte.
»So weit musst du sicher nicht gehen«, sagte sie. »Wenn man alles berücksichtigt, vermute ich, dass wir auch ohne seine Machenschaften auf High Tower gelandet wären. Allerdings wäre es vermutlich nicht so schnell gegangen.«
»Dem kann ich nicht widersprechen. Es hat mir nie gefallen, dass Onkel Silas hier lebt und nur Diener hat, die sich um ihn kümmern – oder sich fragen, wo er bleibt. Wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können in der Nacht, in der Onkel Silas sich den Arm gebrochen hat, wenn Mr. Joslyn nicht gekommen wäre, und wenn ich gleichzeitig sehe, wie glücklich es ihn macht, dass wir uns einverstanden erklärt haben, bei ihm zu leben, kann ich unsere Entscheidung nicht bereuen – selbst wenn Canfield sie mit herbeigeführt hat.«
Sophia betrachtete sie aufmerksam.
»Und was ist mit dem gut aussehenden Mr. Lucien Joslyn? Was hat er damit zu tun, dass du nichts bereust?«
Gillian starrte ihre Cousine stumm an. Ihre Wangen wurden flammend rot, aber schließlich gelang es ihr zu sagen:
»An Mr. Joslyn denke ich nie.«
»Was für eine Schwindelei«, erwiderte Sophia, und als Gillian widersprechen wollte, fügte sie hinzu: »Aber ich werde dich deswegen nicht aufziehen. Nachdem du deinen Kaffee ausgetrunken hast, lass uns gehen und nachsehen, welche Schätze in der Truhe auf uns warten.«
An demselben Donnerstagmorgen wachte Simon ungefähr zu der Zeit auf, zu der diese Unterhaltung zwischen Gillian und Sophia stattfand. Er meinte, in seinem Mund den Boden eines Schweinestalls zu schmecken. Er hatte Vorbehalte gehabt, Padgetts Einladung anzunehmen, und der Ausflug in der Nacht zuvor ins Ram’s Head hatte sie alle in vollem Umfang bestätigt. Weder Padgett noch Stanton war jemand, den er Freund nennen wollte. Für diesen unerträglichen
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