Eine besondere Herzensangelegenheit
am nächsten Morgen machte ich mich an die Bewältigung der neuen Herausforderung.
Es war eine ziemlich harte Nuss, die Lily mir da zu knacken gegeben hatte, mindestens eine Kokosnuss, wenn nicht sogar eine Macadamia. Allein die Vorstellung, von oben in die Tiefe zu blicken, brachte mich ins Schwitzen.
Ich zwang mich, an etwas Schönes zu denken. Der gestrige Abend bot sich da geradezu an. Sebastian hatte mich zum Essen abgeholt, danach waren wir ins Kino und anschließend noch einen Cocktail trinken gegangen.
Allerdings war keiner von uns besonders darauf scharf gewesen, noch einmal das Blue Moon zu betreten. Stattdessen hatten wir uns eine gemütliche kleine Altstadtkneipe ausgesucht.
Erstaunlicherweise war es uns gelungen, ziemlich unbefangen miteinander umzugehen, auch wenn ich manchmal das dringende Bedürfnis verspürt hatte, seine Hand zu berühren oder mich einfach ein bisschen anzulehnen. Unter Aufbringung all meiner Willenskraft hatte ich es geschafft, mich zu beherrschen. Ich hätte ja auch schlecht von Sebastian verlangen können, dass er rein freundschaftlich mit mir umging, nur um dann meinerseits an ihm herumzufummeln. Und er war tatsächlich den ganzen Abend über standhaft geblieben. Selbst beim Abschied hatte er nicht versucht, mich zu küssen.
So ganz hatte mir das allerdings auch nicht gepasst.
Mit dem Gedanken an die angenehmen Stunden, die wir gemeinsam verbracht hatten, tröstete ich mich, als ich mit der Bergbahn hoch zum Heidelberger Schloss fuhr.
Ich hatte von einem Schulausflug noch gut in Erinnerung, dass es dort unzählige Mauern gab, hinter denen es steil nach unten ging. Genau das war auch der Grund, warum ich seitdem nicht mehr dort gewesen war. Aber jetzt würde ich mich endlich überwinden. Das Schloss war genau der richtige Ort, um mich langsam an die Höhe heranzutasten. Dachte ich zumindest.
Doch schon, als es mit der Bahn ungewohnt steil nach oben ging, überkamen mich erste Zweifel, und als ich am Schloss angekommen war, erschien mir mein Vorhaben fast unmöglich.
Eine ganze Weile lief ich unschlüssig am Schloss auf und ab – natürlich immer in respektvollem Abstand zu allen Mauern, hinter denen die Tiefe plötzlich auf mich lauern könnte. Doch irgendwann zwang ich mich, mein Vorhaben endlich anzugehen.
Mit schlotternden Knien näherte ich mich einem kleinen Türmchen in der Schlossmauer, aus dem man durch mehrere scheibenlose Fenster direkt nach unten sehen konnte. Schritt für Schritt trat ich weiter an die bedrohliche Tiefe heran, wobei mir jeder Schritt schwerer fiel als der vorige.
Plötzlich trat ein japanisches Pärchen auf mich zu. Die Frau hatte eine Kamera in der Hand. Beide sprachen in gebrochenem Englisch auf mich ein und gestikulierten wild. Es war klar, was sie von mir wollten: das obligatorische Ich-war-da! -Beweisfoto. Ich sollte sie zusammen vor der imposanten und weltbekannten Kulisse fotografieren.
Doch Ablenkung konnte ich gar nicht gebrauchen. Nicht jetzt, wo ich schon so weit gekommen war. Ich brauchte jetzt jedes Fünkchen Konzentration, das ich zusammenklauben konnte.
Mit einer herrischen Geste brachte ich die beiden zum Schweigen. Nur aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie sich einen fragenden Blick zuwarfen, die Achseln zuckten und dann gespannt beobachteten, was ich da eigentlich machte.
Bevor ich ganz an das Fenster im Türmchen herantrat, hielt ich kurz inne, holte tief Luft und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Dann machte ich den entscheidenden Schritt, beugte mich leicht aus dem Fenster.
Ich hatte mit allem gerechnet, mit Schwindel, Übelkeit. Sogar eine Ohnmacht oder einen Schreikrampf hatte ich in Betracht gezogen, doch es passierte – nichts! Ich sah einfach nach unten. Ein bisschen schummrig wurde mir schon, aber das kannte ich aus meiner Kindheit, das lag an der ungewohnten Perspektive.
Ich konnte selbst kaum fassen, dass ich es geschafft hatte.
Plötzlich fiel alle Anspannung von mir ab. Ich lehnte mich an die Wand neben dem Fenster und ließ mich erschöpft nach unten rutschen, bis ich auf dem Steinboden saß. Das japanische Pärchen, das alle meine Bewegungen gespannt verfolgt hatte, begann plötzlich zu lachen und mir zuzujubeln. Anscheinend hatten sie ganz genau verstanden, was gerade passiert war. Ich lächelte ihnen zu und deutete eine kleine Verbeugung an.
Sie revanchierten sich ihrerseits, indem sie ein Foto von mir machten.
Nachdem ich mich einigermaßen von der Anstrengung erholt hatte, machte ich
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