Eine betoerende Schoenheit
Schokolade – ich sehe von hier, wie sie versucht, ein Stück aus dem Geheimvorrat in ihrer Tasche zu angeln. Die in der Redingote ist unfreundlich zu Kellnern – sie saß gestern beim Abendessen in meiner Nähe. Die in Gelb, Redingotes Schwester, nimmt die Aufmachung einer jeden Dame hier bis ins letzte Detail auseinander – sehen Sie, jetzt flüstert sie mit Redingote, wahrscheinlich über Ihr Kleid. Die Frau in Braun ist eine Gesellschafterin, die nicht länger Gesellschafterin sein möchte. Aber sie ist sehr praktisch veranlagt. Sie nimmt keine Notiz von mir, weil ich Sie an meiner Seite habe, sie sucht einen einsamen Herrn, der ungebunden ist und sie vielleicht trotz ihres niederen Standes heiratet.“
Er wandte sich ihr wieder zu. „Sehen Sie, sie interessieren mich nicht so wie Sie.“
Der Schleier verbarg das Farbspiel seiner Augen, doch es war nicht zu übersehen, mit welchem Vergnügen er sie betrachtete. Ihr Herzschlag wurde unregelmäßig – beziehungsweise noch unregelmäßiger. Bislang hatte ihr Herz in seiner Gegenwart kein einziges Mal gleichmäßig geschlagen.
Jetzt erst ging ihr auf, dass er eine viel bessere Beobachtungsgabe besaß, als sie angenommen hatte. Mit dieser Erkenntnis begannen bei ihr alle Alarmglocken zu schrillen. „Was wissen Sie denn über mich?“
„Sie haben wahrscheinlich recht jung geheiratet. Ihr Mann hatte gewaltigen Einfluss auf Sie – weil Sie ihn sehr liebten, weil er einige Jahre älter war als Sie, vielleicht auch beides. Bis heute sind Sie noch nicht völlig aus seinem Schatten herausgetreten. Aber Sie sehen Ihre Einsamkeit nicht als Zeichen dafür, dass Sie noch an ihm hängen. Wenn überhaupt, sind Sie froh, allein zu sein – und in Sicherheit.“
Sie spürte, wie sie blass wurde. So viel hätte er nicht über sie wissen dürfen. „Ich hätte wahrscheinlich für mich bleiben sollen. Ich bezweifele, ob ich bei Ihnen in Sicherheit bin.“
„Sagen Sie mir, was Sie über die Männer in diesem Raum denken.“
Sie sah ihn an, war nicht sicher, was er wollte.
„Tun Sie mir den Gefallen“, sagte er.
Außer ihm waren noch drei Männer anwesend. „Der eine wirft der Schokoladenliebhaberin verärgerte Blicke zu. Er ist höchstwahrscheinlich ihr Bruder. Vielleicht ist ihre Mutter seekrank, und er ist gezwungen, den Anstandswauwau zu spielen. Der junge Mann, der mit unserer Schokoladenfreundin spricht, erinnert mich ein wenig an meinen Bruder. Ihn umgibt diese gewisse Aura des Pflichtgefühls – jemand, der seine Verantwortung ernst nimmt. Ich würde sagen, unser Mädchen mit dem Schokoladenversteck und ihr Bruder sind auf Anordnung ihrer Mutter hier, um den verantwortungsvollen jungen Mann zu beeindrucken. Der ist aber abgelenkt. Er sieht ständig zu einer der Frauen hin, die alt genug sind, Ihre Mutter zu sein – und die durchaus auch seine Mutter sein könnte.
Die wiederum spricht mit einem Mann Mitte dreißig. Ich verstehe, warum der verantwortungsvolle junge Mann argwöhnisch ist. Er wippt die ganze Zeit mit dem Fuß und zwinkert zu oft. Sein Lächeln reicht nicht bis in seine Augen. Außerdem verändert sich sein Akzent ständig. Er versucht, sich als englischer Gentleman auszugeben, aber ich höre Spuren der amerikanischen Sprechweise.“
„Aha“, sagte Lexington, offensichtlich zufrieden.
„Was bedeutet das?“
„Gestern Nacht sagten Sie, Sie misstrauten Ihrer Fähigkeit, Männer zu beurteilen. Meine Liebe, Ihre Fähigkeiten in dem Bereich sind bewundernswert.“
Sie wurde unruhig. Sie war es nicht gewohnt, Komplimente für etwas, was sie konnte, zu erhalten.
„Haben Sie als scharfe Männerbeobachterin an meinem Charakter oder Betragen etwas bemerkt, was Sie zu dem Schluss führt, Sie seien bei mir nicht in Sicherheit?“
„Nein“, gab sie zu.
„Würden Sie mir dann erlauben, Sie zu einer Tasse heißem Kakao in meiner Kabine einzuladen?“
„Es wäre eine ziemliche Sauerei, mit diesem Schleier vor dem Gesicht Kakao zu trinken.“
„Ich werde mir die Augen verbinden. Sie können den Schleier abnehmen.“
„Das ist ein sehr freundliches Angebot, aber in Ihre Räumlichkeiten zu gehen, Sir, würde Sie ermutigen, und das liegt nicht in meiner Absicht.“
„Wie kann ich Sie umstimmen?“
„Ich habe nicht vor, mich umstimmen zu lassen.“
„Irgendetwas muss ich doch tun oder Ihnen geben können.“
Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. „Glauben Sie, ich sei käuflich?“
„Es geht nicht darum, mir Ihre Gunst zu
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