Eine betoerende Schoenheit
Savoy zu treffen. Endlich tue ich etwas für Dich – für uns.
Ich habe das seltsame, von Vorfreude geprägte Gefühl, dass ich Dir begegnen werde. Wenn du mich siehst, komm bitte und stell dich vor, damit ich Dir wenigstens meine Briefe geben kann. Wenn Du auch meinen Namen annimmst, werde ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein.
Dein Dir ergebener
C.
P.S.: Es war seltsam, eine einseitige Korrespondenz zu führen, aber ich fühle mich Dir näher, wenn ich meine Gedanken zu Papier bringe, und ich muss wohl nicht eigens erwähnen, dass ich alles täte, um Dir näher zu sein.
KAPITEL 11
***
„Wer ist er?“
Venetia zuckte zusammen. Sie drehte sich zu Fitz um. „Warum schreist du mir ins Ohr?“
Ein nahender Zug – höchstwahrscheinlich der, der Millie und Helena nach Hause brachte – pfiff in der Ferne. Die Schienenräumer veranlassten die Menge auf dem Bahnsteig, von den Gleisen zurückzutreten, um genug Platz für die zu schaffen, die bald aussteigen würden.
„Weil ich dir diese Frage bereits drei Mal gestellt habe, meine Liebe“, entgegnete Fitz mit leiserer Stimme, „und du mich nicht gehört hast.“
Sie lächelte schwach. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“
„Wer ist er, der Mann, an den du denkst? Ich habe dich seit deiner Heimkehr beobachtet. Du isst kaum. Du kommst beim Sticken höchstens zwei Stiche voran. In einem Augenblick lächelst du übers ganze Gesicht, im nächsten musst du dich bemühen, nicht zu weinen – und vergiss nicht, dass ich heute Morgen über fünf Minuten neben deinem Sessel stand, ohne dass du das auch nur im Geringsten bemerkt hast.“
Irgendwann hatte er ihr auf die Schulter getippt und sie damit aus einem Tagtraum gerissen, der sich außerordentlich echt angefühlt hatte und in dem der erste Gang des Abendessens an Christians Geburtstag kalt wurde, während sie auf dem Tisch über einander herfielen.
Wäre das Claridge’s nicht wegen eines Neubaus abgerissen worden, hätte sie sich dort eine Suite für die gesamte Saison gemietet, und Fitz wären die Symptome ihres Herzschmerzes entgangen. Da das Hotel jedoch noch immer im Bau war – und es nicht schadete, wenn noch jemand ein Auge auf Helena hatte –, hatte sie Fitz‘ Einladung, in seinem Stadthaus zu wohnen, angenommen.
„Es liegt an den Sorgen um Helena. Ich bin unkonzentriert“, sagte sie mit belegter Stimme.
Fitz hatte in einem Punkt recht: Sie war ständig den Tränen nahe.
Manchmal kam es ihr vor, als sei die Überfahrt auf der Rhodesia ebenso lange her, wie die Antike – als der imposante Leuchtturm von Alexandria noch Seefahrern den Weg wies. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich den Mann, der sie wegen ihres Charakters liebte und nicht wegen ihres Aussehens, nur eingebildet hatte.
In den Nächten erinnerte sie sich mit brennender Sehnsucht an jeden seiner Küsse. Morgens tastete sie nach ihm, bis ihr wieder einfiel, dass er nie wieder neben ihr liegen würde. Die Einsamkeit, die sie so lange einfach hatte erdulden können, war dabei, sie zu ersticken wie eine Schlingpflanze ihren Wirtsbaum.
Als ob er sie nicht gehört hatte, bemerkte Fitz: „Ich weiß, dass er kein Amerikaner ist – du hast in Millies alter Ausgabe von Debrett‘s Adelskalender gestöbert.“
Sie konnte den langen Eintrag über den Duke of Lexington unterdessen auswendig.
„Wer ist er also, und warum hat er mir nicht längst die Tür eingerannt, um dir einen Antrag zu machen?“
Sie wollte Fitz nicht belügen. Aber sie konnte genauso wenig verraten, was auf der Rhodesia geschehen war.
„Millie und Helena werden dir noch früh genug erzählen, was es damit auf sich hat. Es ist jedenfalls nicht das, was du denkst.“
Sie hatte angenommen, Millie habe in einem ihrer fast täglichen Briefe an Fitz bereits etwas erwähnt, da ihr Bruder sie nicht ein einziges Mal gefragt hatte, warum sie den Rest seines Weibsvolks verlassen hatte und allein zurückgekehrt war.
Fitz legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Das tut mir leid. Mir gefällt die Idee, du könntest verliebt sein. Du hast dich viel zu lange vor allem verschlossen.“
Ihre Augen brannten. Sie blinzelte die Tränen weg. „Oh, schau! Ich glaube, das ist ihr Zug.“
Es war Venetias Idee, das Mittagessen gemeinsam im Savoy einzunehmen. Ein masochistischer Zug: Nun konnte sie sich das Abendessen, das sie mit Christian nie erleben würde, bis ins kleinste Detail ausmalen, und da es einige abgeschiedene Speisezimmer im Hotel gab, würde sie sich
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