Eine bezaubernde Erbin
aber nicht. Stattdessen schüttelten sie zum Gruß die Hände und berührten ihre Finger einen Augenblick länger, als vielleicht angemessen gewesen wäre. „Fährst du weg?“
„Ja, nach Bodley, um mir ein paar Handschriften anzusehen.“ Er hatte schon damals als Student viel Zeit in der Bodleiana, der Bibliothek von Oxford, verbracht. „Und du?“
„Venetia kommt heute aus den Flitterwochen zurück. Ich dachte, ich hole sie ab, um sie in London willkommen zu heißen.“
„Wie aufregend. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihr persönlich zu gratulieren.“ Er kaute auf seiner Unterlippe. „Aber ich schätze, sie wünscht mich nicht zu sehen.“
„Wovon redest du?“
Er hatte den rechten Handschuh ausgezogen, als er ihr die Hand gab. Jetzt drehte er ihn nervös in seinen Händen. „Ich dachte … dein Bruder … du weißt es nicht?“
„Fitz?“ Ihr sank das Herz. „Was hat er damit zu tun? Sag bitte nicht, dass er mit dir gesprochen hat?“
Darum hatte Andrew ihr geschrieben und gebeten, die Affäre zu beenden, hatte die Gefahren für ihren Ruf und was noch alles genannt.
„Er war sehr freundlich, aber er hat recht, Helena. Was wir getan haben, war furchtbar gefährlich. Und ich hätte es nicht ertragen, wenn ich deinem guten Ruf geschadet hätte.“
Also hatte Fitz – genau wie Venetia und Millie auch – die ganze Zeit Bescheid gewusst. Wenn jemand für das alles die Verantwortung trug, dann sie selbst, aber ihr Bruder hatte beschlossen, hinter ihrem Rücken mit Andrew zu sprechen. Sie hatten für sie Entscheidungen getroffen und sie darüber im Dunkeln gelassen, als ob sie ein Kind wäre, wo sie in Wahrheit nicht einmal fünfzehn Minuten jünger war als Fitz. Und ihr gegenüber hatten sie so getan, als wäre nichts geschehen, als ob eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens nicht mehr wäre als Unrat, den man unter den Teppich kehren konnte.
„Mein guter Ruf, ist das alles, woran du denken kannst? Ich dachte, wir waren uns bereits einig, dass es mehr im Leben gibt als den guten Ruf. Ich dachte, wir hätten beschlossen, dass man für sein Glück auch mal Risiken eingehen muss.“
„Das glaube ich immer noch. Aber das war, bevor man uns entdeckt hat. Zum Glück war es nur dein Bruder. Wenn es jemand anderes gewesen wäre … Ich will gar nicht über die Folgen nachdenken.“
Verfluchter Hastings. Er hatte es Fitz also doch verraten.
„Willst du mich wirklich nie wieder sehen?“
„Helena.“ Andrews Stimme bebte kaum hörbar. „Du weißt, dass ich alles dafür geben würde, dich sehen zu können, aber ich habe es deinem Bruder versprochen.“
„Ist dein Versprechen ihm gegenüber mehr wert als alle Versprechen, die du mir gegeben hast?“
Andrew zuckte zusammen. „Ich …“
In ihrem Augenwinkel sah sie, dass Susie zurückkam. „Wir werden uns wiedersehen, denn du wirst mich nicht einfach so im Stich und ohne Hoffnung lassen.“
Sie wandte sich ab und ging, ehe Susie zu nahe gekommen war.
Nur um keine fünfzehn Schritte von ihr entfernt Hastings mit einem Ausdruck von mildem Interesse im Gesicht zu entdecken. Er hatte sie und Andrew zusammen gesehen. Sie dachte sich keine neue Aufgabe für Susie aus, sondern sagte ihr nur, dass sie unter vier Augen mit Hastings reden wollte.
Bevor sie ihn jedoch für seinen Wortbruch zu Rede stellen konnte, erklärte er: „Ich habe Fitz die Identität Ihres Geliebten nicht verraten. Er hat mir sogar ins Gesicht geschlagen, als er erfahren hat, dass ich ihm nicht alles gesagt hatte.“
„Wer war es dann?“
„Einigen Ihrer Familienmitglieder können Sie ruhig etwas mehr zutrauen. Glauben Sie, sie erinnern sich nicht daran, dass Sie in ihn verliebt waren? Glauben Sie, sie können es sich nicht zusammenreimen? Und vergessen Sie nicht all seine Liebesbriefe, die stapelweise bei Ihnen eintrafen. Sie mussten nur einen in die Finger bekommen, um herauszufinden, wer er war.“
Es gab einen Brief, der seit ihrer Reise nach Amerika verschollen war. „Warum haben sie nichts zu mir gesagt?“
„Wahrscheinlich weil sie wussten, dass Sie Vernunftgründen nicht zugänglich sein würden.“
„Das ist doch reiner Mumpitz.“
„Hätten Sie auf sie gehört?“
„Sie hätten nur versucht, mich mit konventionellem Denken umzustimmen – was nicht dasselbe wie Vernunftgründe ist. Wir leben nicht alle nach derselben Logik.“
„Und trotzdem müssen Sie sich an dieselben Regeln halten wie alle anderen. Die Konsequenzen werden auch für Sie
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