Eine Billion Dollar
wenigstens, was meine Aufgabe im Leben überhaupt ist.«
Das schien ihr nicht zu gefallen. »Haben wir nicht jeder die gleiche Aufgabe? Das Leben zu leben?«
John starrte auf den Rasen zu seinen Füßen, auf die trockenen, verharrenden Grashalme. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was das heißen soll.«
»Dass das Leben nichts Schwieriges ist. Man lebt. Man liebt. Man lacht. Oder weint, wenn es angebracht ist.«
»Das tun die Menschen seit Jahrtausenden, und wenn sie so weitermachen, wird es in ein paar Jahrzehnten keine Menschen mehr geben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist keine Antwort.«
Jetzt sah sie ihn an. Ihre Augen waren wie große, dunkle Seen. Unergründlich. Aber es gefiel ihm, wie sie ihn ansah. Dass sie ihn ansah. »Sie laden sich da ein bisschen viel auf«, meinte sie.
»Es ist mir aufgeladen worden. Zusammen mit einer irrsinnigen Menge Geld.« Geld, das die ganze Welt versklavte. Er durfte nicht darüber nachdenken.
»Ich glaube«, sagte sie, »es gibt da etwas, das ich Ihnen dringend zeigen sollte.«
»Die erstaunliche Entdeckung?«
»Sie ist mehr als erstaunlich.« Sie sah umher. »Wir müssten dazu nach Florenz fahren, in die Kanzlei.«
Ihm fiel auf, wie still es war. Damals hatten Zikaden in den Büschen gezirpt, doch selbst sie schienen stumm abzuwarten. Die Wolken am Himmel genauso, reglos und blass.
»Der Arzt hat gesagt, es kann noch dauern«, sagte sie.
John zögerte. »Nur weil ich neugierig bin, das Risiko einzugehen …?«
»Ist es denn ein Risiko? Sterben muss jeder sowieso alleine.«
Und wenn es noch etwas zu sagen gegeben hätte, wäre auch Gelegenheit genug gewesen, ja. John sah sie an und hatte das eigenartige Gefühl, sie schon seit ewigen Zeiten zu kennen. Er spürte seine Augen feucht werden, und es war nicht nötig, es zu verbergen.
Er sah hoch zu dem Fenster, hinter dem der alte Mann auf den Tod wartete, und fühlte sich von einem tiefen Einverständnis durchströmt. Was immer Sie tun, es wird das Richtige sein.
»Gehen wir«, sagte er.
Es sah wild aus im ersten Stock der Kanzlei. Vitrinen standen offen, die kostbaren Folianten achtlos obenauf gestapelt, auf Tischen lagen Nachschlagewerke aufgeschlagen, Notizen bergeweise, selbst an den Wänden hingen Zettel mit Jahreszahlen, Beträgen, Stichworten in Deutsch, die er nicht lesen konnte. Sie musste hier schon eine ganze Weile zugange sein.
»Hier, schauen Sie sich zuerst das an.« Sie nahm ein Buch aus der klimatisierten Vitrine, die leicht beschlug, als sie die Tür öffnete, und legte es aufgeschlagen vor ihn hin. »Das ist eines der Kontenbücher Giacomo Fontanellis. Daran sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens, im fünfzehnten Jahrhundert wurde in Italien das entwickelt, was wir heute als doppelte Buchführung bezeichnen. Damals hieß es Buchführung a la veneziana, und diese neue Methode war mit ein Grund für die überragende Stellung, die die italienischen Kaufleute damals innehatten. Doch Fontanelli benutzt sie nicht, sondern führt eine Art Geschäftstagebuch, und das eher unsystematisch, um es höflich auszudrücken. Beachten Sie die Handschrift – weich, fließend, mit wechselnden Ausrichtungen. Es ist dieselbe Handschrift wie in dem Testament.«
John besah sich die blassen Krakel, verglich sie mit der Schrift auf dem Testament, das immer noch an seinem Platz unter Glas lag. Dort hatte sich der Schreiber mehr Mühe gegeben, sauber zu schreiben, aber davon abgesehen war es zweifelsfrei dieselbe Hand gewesen. »Na ja«, meinte er. »Das war zu erwarten gewesen, oder?«
Ursula Valen nickte beiläufig. »Es wird nachher noch eine Rolle spielen. Für den Moment ist wichtig, dass diese Art der, sagen wir, chaotischen Aufzeichnung es erschwert, sich rasch einen Überblick über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse eines Kaufmanns zu verschaffen. Deswegen ist es lange niemandem aufgefallen, dass Fontanellis Bücher nicht mit dreihundert Florin Gewinn, sondern mit dreihundert Florin Verlust abschließen. Um genau zu sein, ich war die Erste, die es gemerkt hat, und es ist noch keine drei Monate her.« Sie legte ihm ein anderes Kontenbuch hin, das letzte aus der Reihe, auf der letzten beschriebenen Seite aufgeschlagen. »Punkt zwei.«
»Verlust?« John runzelte die Stirn, während er die Zahlen studierte. Sie sagten ihm nichts. Er musste ihr glauben, darauf vertrauen, dass sie wusste, wovon sie sprach. »Aber wie konnte er ein Vermögen hinterlassen, wenn er keines besaß?«
»Das habe
Weitere Kostenlose Bücher