Eine Billion Dollar
hatte sein Gesicht schon einmal in der BlLD-Zeitung abgedruckt gesehen. Ein älterer Bruder des Billionenerben. Der einzige, der verheiratet war. Hätte dieser Mann einen Sohn, wäre er der reichste Mann der Welt, hatten die Zeitungsmacher in ihrer unnachahmlichen Art dazu getextet. So bleibt er Angestellter des amerikanischen Finanzamts mit vierzigtausend Dollar Jahresgehalt. Demnach musste das seine Frau sein.
Eine Prophezeiung? Was für eine Prophezeiung?
Ursula Valen räusperte sich. »Entschuldigen Sie«, lächelte sie, so gut sie konnte. »Ich konnte nicht umhin, Ihr Gespräch mit anzuhören… Ihr Name ist Fontanelli, nicht wahr?« Die skeptischen Blicke der beiden schmolzen dahin, insbesondere der der Frau, als sie hinzufügte: »Ich bin Journalistin, aus Deutschland. Darf ich so dreist sein, zu fragen, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hat…?«
Auf dem Rückflug nach Europa fasste John den Entschluss, die Familie seines verstorbenen Cousins Lorenzo aufzusuchen. Er hätte nicht sagen können, was er sich davon versprach, aber da war ein unnachgiebiger Drang in ihm, so viel wie möglich über den Jungen, den er nie kennen gelernt hatte, herauszufinden.
Als er in Portecto ankam, war Marvin verschwunden, ohne Notiz, ohne Brief. Am Montagvormittag habe er telefoniert, wusste Jeremy zu berichten, dann sei er ohne ein Wort gegangen, mitsamt seinem Matchsack. Sofia, die Haushälterin, glaubte gesehen zu haben, dass er weiter unten an der Straße von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen worden war. Francesca, das Zimmermädchen, erklärte ungefragt, sie habe sein Zimmer schon aufgeräumt, »alles weggemacht«, wie sie sich ausdrückte. Sie kaute dabei nervös auf ihrer Unterlippe und blickte drein, als gebe sie sich die Schuld daran, dass der Gast aus Amerika das Weite gesucht habe.
»Seltsam«, sagte John. Er hatte sich beinahe darauf gefreut, den Abend mit Marvin zusammenzuhocken. Aber wie es aussah, hatte den das Heimweh gepackt, so allein in dem großen Haus, und er war zurückgeflogen.
Den Rest des Tages schlich John um den Telefonapparat herum und schob es vor sich her, bei den Verwandten in Rom anzurufen. Sie kannten ihn schließlich überhaupt nicht. Für sie musste er doch der Nutznießer von Lorenzos Tod sein. Erst als sich die Sonne auf den Horizont herabsenkte und das Wohnzimmer mit orangerotem Lagerfeuerlicht erfüllte, raffte er sich endlich auf und wählte die Nummer.
Und siehe da, die Frau am anderen Ende, Lorenzos Mutter, die Frau des Cousins seines Vaters, schien fast außer sich vor Freude, dass jemand sich für ihren toten Sohn interessierte. Ja, selbstverständlich könne er kommen, jederzeit, wann es ihm passe. Auch morgen, kein Problem, sie sei sowieso zu Hause.
John war erleichtert, als er auflegte, und schweißnass unter seinem Hemd. Die Sonne war in einem düsterroten Saum am Horizont untergegangen, der Himmel sternklar im Zenit. Er sah empor zu den verhalten funkelnden Lichtpunkten in schwarzem Samt und sagte sich, dass angesichts der Größe des Universums gleichgültig war, was er hier tat. Ob er die Zukunft der Menschheit rettete oder nicht, die Sterne würden weiter leuchten in erhabener Gleichgültigkeit.
Am nächsten Morgen fand er zu seiner Überraschung Marvin im Salon auf dem weißen Sofa lümmeln und in einer englischen Musikerzeitschrift blättern.
»Hi«, meinte er, ohne aufzusehen. »Und? Schönes Wetter in New York?«
»Ja, kann man so sagen«, sagte John. »War schön.« Er ließ sich in einen der Sessel fallen. »Ich wundere mich, dass du da bist. Gestern Abend hätte ich gewettet, du seist nach Hause geflogen.«
»Nicht dran zu denken. Mir gefällt’s hier. Ich bleib erst mal, wenn du nichts dagegen hast.«
»Natürlich nicht. Hab ich doch gesagt.« Es irritierte ihn, dass Marvin ihn nicht ansah, während sie miteinander sprachen. Und er konnte seinen Blick kaum von Marvins klobigen schwarzen Schuhen abwenden, die achtlos auf der Armlehne ruhten.
»Schön«, sagte John, bemüht, sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen. »Und was hast du vor hier in Italien?«
»Das, was ich immer vorhabe. Mich so durchs Leben schlagen«, meinte Marvin knapp und vertiefte sich in die Abbildung einer schwarzlackierten Bassgitarre. Er kratzte sich ausgiebig im Rücken, und seine Schuhe rutschten hin und her dabei mit einem leisen, schabenden Geräusch, das John fast körperlich spürte.
»Sag mal«, fragte er, »könntest du bitte deine Schuhe vom
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