Eine Billion Dollar
ist. Aber vor allem bin ich glücklich, weil ich meine Arbeit liebe. Weißt du, man kann seine Frau lieben, das ist schön, aber wie oft und wie lange sieht man seine Frau am Tag? Eine Stunde, vielleicht zwei. Seine Arbeit aber macht man jeden Tag acht Stunden lang und länger, und deshalb ist es, schon allein von der Zeit her, entscheidend, ob sie einem gefällt oder nicht. Und ich liebe meine Arbeit. Ich liebe Leder – wie es sich anfühlt, wie es riecht –, ich liebe es, Leder zu schneiden, mit der Ahle ein Schnürloch hineinzustechen; ich liebe das Geräusch des Hammers darauf, wenn ich einen Absatz annagle, und ich liebe es, mit der Maschine eine neue Sohle anzunähen. Gut, ich bin nicht der beste Schuhmacher der Welt. Ganz bestimmt nicht. Vor allem habe ich schon lange keine Schuhe mehr gemacht, ich repariere sie ja nur. Da, meine eigenen Schuhe habe ich selbst gemacht, aber das ist schon lange her. Zehn Jahre, oder? Bald fünfzehn. Egal. Aber was ich sagen will, ist, dass ich mich wohlfühle, wenn ich in meiner Werkstatt stehe, zwischen all den Schuhen, mit den Werkzeugen an der Wand, den alten Maschinen, die nach Öl riechen, und den Dosen mit dem Wachs. Ab und zu kommen Leute herunter, dann hat man ein Schwätzchen, dann wieder ist man allein und kann seinen Gedanken nachhängen, während die alten Hände von selber arbeiten.« Er nahm noch einen Schluck und schmatzte genießerisch. »Verstehst du jetzt, dass ich nicht aufhören will zu arbeiten? Ich tue es gern – also, warum sollte ich damit aufhören, nur weil es ›Arbeit‹ heißt?«
John nickte. »Ja. Aber du nimmst das Geld trotzdem.«
»Ja, das habe ich ja gesagt. Du kannst es für mich anlegen, und es wird mich freuen, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Immer nur die Sorge, dass das, was ich mit der Werkstatt verdiene, nicht reicht und ich gezwungen sein könnte, in eine der Fabriken zu gehen. Es war ein Glück, dass ich das Haus damals gekauft habe und es abbezahlt ist, denn wenn ich die heutigen Mieten zahlen müsste, ginge es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das mit den kleinen Geschäften weitergehen soll, aber, na ja, davon verstehe ich nichts, darüber sollen andere sich Sorgen machen.«
»Jetzt lass den Jungen doch auch mal zu Wort kommen«, wies ihn seine Frau zurecht. »Erzähl doch mal, John – was hast du für Sorgen drüben in Italien?«
John hielt das Glas in beiden Händen wie eine Wahrsagerkugel und betrachtete die dunkelrote Flüssigkeit darin. Das Licht der dreißig Jahre alten Deckenlampe zauberte glitzernde Funken auf die Oberfläche. Der Wein roch stark und würzig.
»Erzählt mir«, bat er bedächtig, »was ihr über Lorenzo wisst.«
15
Sie saß in ihrem Sitz wie versteinert, erstarrt, betäubt, und ließ alles willenlos mit sich geschehen. Sie bekam kaum mit, wie das Flugzeug beschleunigte und abhob, starrte blicklos geradeaus, als die Sicherheitsgurte und die Atemmasken erklärt wurden, wusste nur, dass da Menschen um sie herum waren und Geräusche und dass es zu Ende war.
Als ob sie es geahnt hätte. Eine Überraschung hatte es sein sollen. Bei Gott, das war es geworden. Wenn sie nur Tränen gehabt hätte, mehr als alles andere wünschte sie sich das: weinen zu können über das, was geschehen war. Ihr Herz schlug immer noch wie rasend, als sei es nicht schon Stunden her, dass sie ausgerastet war, geschrien hatte, gebissen und gekratzt, bis die Hoteldiener sie wegzerren mussten. Wenn sie ein Messer in die Hand bekommen hätte, sie wäre zur Mörderin geworden. Sogar jetzt noch spürte sie diesen unbändigen Hass, diese maßlose Verzweiflung, die aus unglaublichen Kraftquellen in ihr hochgesprudelt war, und es tat gut, sich das vorzustellen – ihm das Messer in die Kehle zu rammen, ihn verdammt noch mal zu entmannen, zu kastrieren wie einen Hund.
Ursula Valen, Studentin der Geschichtswissenschaften und freiberufliche Journalistin aus Leipzig, sechsundzwanzig Jahre alt und seit zwei Stunden und fünfundfünfzig Minuten wieder alleinstehend, schloss die Augen. Es tat so weh. Wie eine Wunde war es, in ihrem Bauch, in ihrer Seele. Als hätte er ihr ein Stück aus dem Leib geschnitten. Ihr war danach, sich zu krümmen vor Schmerz, sich in der Haltung eines Embryos auf einem Bett zusammenzurollen und den Rest ihres Lebens zu heulen und zu klagen. Sie wusste, dass sie das nicht tun würde, dass sie morgen mit ihrer Arbeit weitermachen und niemanden merken lassen
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