Eine Braut fuer Lord Sandiford
nicht, ihre Gott gegebenen Vorzüge bewusst einzusetzen. Das tat sie nur, wenn man sie direkt herausforderte, wie das die bedauernswerte Miss Glover getan hatte, oder wenn sie jemand besonders verärgerte oder faszinierte.
Sie warf erneut einen Blick zu Lord John, der sie unverwandt anstarrte; ein Schauder lief ihr über den Rücken. Er mochte noch so viele wichtige Verbindungen haben – ab heute Abend würde sie ernsthaft daran denken, ihn künftig zu ignorieren.
Da sie niemand in einer der von Zeit zu Zeit vorbeifahrenden Kutschen mit einer Krone auf dem Wagenschlag auf sich aufmerksam machen wollte, blieb sie im Schatten der Häuser, ein Stück von der Straße entfernt. Die Kuppel von St. Paul's in der Ferne gab ihr ein seltsames Gefühl der Sicherheit. Wie sollte etwas Gefährliches geschehen können, wenn sie sich in der Nähe von Christopher Wrens berühmter Kirche befand?
Da es nicht zu ihrer Abmachung gehörte, dass sie die Blumen, die sie bei sich hatte, auch verkaufen musste, begann sich Clarissa nach ein paar Augenblicken zu entspannen. Zum ersten Mal in ihrem Leben entkam sie den Zwängen, die einer Frau ihres Standes auferlegt waren; nun konnte sie so frei wie ein Mann die Straße auf und ab gehen und wurde weder von dienstbaren Zofen noch von ihr nachlaufenden Lakaien gequält. Interessiert verfolgte sie die Geschehnisse auf dem Platz. Für eine Dame, die sich stets in einer privilegierten Gesellschaft bewegte, war das, was sich in der Nachbarschaft der großen Theater abspielte, geradezu eine Sensation.
Im flackernden Licht einer Fackel spielten, ein paar Geschäfte weiter, zwei barfüßige, schmutzige Jungen mit Würfeln und riefen einander Worte in einer unverständlichen Sprache zu. Eine junge Frau – ihrer Kleidung nach eine Magd – kam Arm in Arm mit einem feisten Mann daher, der ein Lakai zu sein schien; sie steckten die Köpfe zusammen und lachten leise. Als sie an einem Bündel, das auf der Straße lag, vorbeikam, bemerkte Clarissa, dass es sich um einen zerlumpten Mann handelte, der so bewegungslos dalag, dass sie ihn anfangs für tot hielt. Doch als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie die Flasche, die er zitternd zu den Lippen führte. Ein Bettler, dachte sie fasziniert und abgestoßen zugleich.
Gelegentlich gingen ein paar Fußgänger an ihr vorüber; die meisten von ihnen waren Männer, wie zu erwarten war zu dieser Stunde. Nun kam einer daher, der mit seinem langen Mantel und einer glitzernden Uhrkette der Buchhalter eines Notars sein mochte. Vielleicht, dachte sie aufgeregt, besucht er eine der Frauen in den Freudenhäusern, die sich, wie sie wusste, in den dürftig beleuchteten Gassen in der Nähe von Covent Garden befanden. Zwei junge Männer, die singend Arm in Arm an ihr vorbeiwankten, kamen vermutlich gerade von einem Besuch in einer der Tavernen.
Anscheinend interessierte sich keiner der Vorübergehenden für ihre Veilchen, denn nach einem kurzen Blick auf die schon leicht verwelkten Blumen und Clarissa, die still dastand, gingen die Fußgänger weiter.
Einige Augenblicke später kamen aus der Richtung von Russell Street eine ganze Menge Kutschen. Vermutlich hatten die Theater auf der Drury Lane gerade ihre Vorstellungen beendet. Nun erschien eine Gruppe gut angezogener junger Herren, die ausgelassen und fröhlich plaudernd den Platz überquerten. Clarissa warf einen Blick über die Straße und sah, dass ihre Beschützer noch immer Wache hielten. Beruhigt zog sie sich noch weiter in die Schatten der Häuser zurück, da sie ihr aufregendes Abenteuer nicht gefährden wollte, indem sie von jemand erkannt wurde.
Es schien so, als ob die jungen Herren Grenville kannten, denn einen Moment später gingen er und die anderen "Wachen" auf die Gruppe zu und sprachen mit ihnen. Vermutlich wollten sie die Männer von ihr ablenken, was Clarissa sowohl amüsiert als auch dankbar zur Kenntnis nahm.
Ihre Aufmerksamkeit war so sehr von dem Geschehen auf der anderen Seite des Platzes in Anspruch genommen, dass sie die große Gestalt zuerst gar nicht wahrnahm.
"Verkaufst du mir ein paar Veilchen, Schätzchen?" fragte plötzlich eine raue Stimme.
Ein kräftiger Mann mit breiten Schultern, der einen schäbigen Mantel trug, stand ein wenig schwankend vor ihr. Zwei schwarze Augen waren auf sie gerichtet, und der scharfe Geruch von Alkohol stieg Clarissa in die Nase. Die Härchen auf ihrem Nacken stellten sich auf, und voller Unruhe warf sie einen Blick zu ihren
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