Eine Braut muss her!
“Aber falls Sie die Partie unterbrochen haben, können Sie sie dort fortsetzen, wo Sie aufhören mussten. Ist es vermessen von mir, Sie zu bitten, mich beim Vornamen zu nennen, zumindest dann, wenn wir allein sind?”
Sie überhörte die Aufforderung, lächelte höflich und erwiderte erstaunt: “Mir scheint, Sie haben nicht vergessen, dass wir schon früher, als Sie noch bei meinem Vater studierten, die Spielzüge notiert haben.”
“Nein”, gestand er schmunzelnd ein. “Ich gebe gern zu, dass Ihre Betätigung mich fasziniert. Ich dachte mir, dass Sie wahrscheinlich errechnen wollen, welche Gegenzüge bei bestimmten Manövern eines Schachspielers logisch sind. Diese Aufgabe hat auch mich gereizt.”
“Nun, dann lassen Sie mich sehen, Russell, wie Sie verfahren sind”, bat sie, schloss die Tür und ging zu ihm.
Er war erfreut, dass sie durch die persönliche Anrede endlich wieder zu einer vertraulicheren Umgangsform zurückgefunden hatte. “Mit Vergnügen”, erwiderte er und hielt ihr seine Aufzeichnungen hin.
Sie setzte sich, studierte sie aufmerksam und sah ihn dann überrascht an. “Wie lange haben Sie dafür gebraucht, Mylord?” wollte sie wissen.
Es störte ihn, dass sie unversehens wieder förmlich war. Außerdem hatte er den Eindruck, dass sie nicht viel von seinen Berechnungen hielt, von denen er glaubte, sie seien die logische Fortsetzung ihrer Arbeit.
“Es tut mir leid, wenn meine Berechnungen unsinnig auf Sie wirken”, antwortete er irritiert. “Aber es ist lange her, seit ich mich ernsthaft mit einem mathematischen Kalkül beschäftigt habe.”
Rasch legte sie dem Viscount die Hand auf den Arm und sagte kopfschüttelnd: “Sie müssen sich nicht entschuldigen, Sir. Im Gegenteil! Sie haben mich mit Ihrer Ermittlung der folgenden Züge in großes Erstaunen versetzt. Ich bin überzeugt, in der kurzen Zeit, die Ihnen zur Verfügung stand, seit ich das Spiel unterbrochen habe, hätte ich diese Lösung nicht so schnell gefunden. Doch auf diesem Gebiet waren Sie mir immer überlegen.”
“Dafür liegen Ihre Stärken in anderen mathematischen Bereichen.”
“Danke”, sagte Mary lächelnd. “Vielleicht hat mein Vater deshalb immer gemeint, Sie und ich würden uns bestens ergänzen.”
“Sind auch Sie davon überzeugt?” erkundigte Russell sich neugierig. “Oder wollten Sie mir nur ein nettes Kompliment machen?”
“Nein”, antwortete sie ehrlich. “Wenn wir wieder zusammenarbeiten könnten, würden wir gewiss viel erreichen. Oh, Pardon, Sir! Das war Wunschdenken. Jeder von uns hat jetzt sein eigenes Leben.”
Am liebsten hätte er ihr anvertraut, dass er seins inhaltslos fand. Er verzichtete jedoch darauf, ergriff ihre Hand und hob sie zum Kuss an die Lippen.
“Sagen Sie mir, Mary … Mrs Wardour, was Sie anstreben. Dann können wir gemeinsam versuchen, in der Zeit unseres Aufenthaltes hier zu diesem Ergebnis zu gelangen.”
“Das ist ausgeschlossen, Sir, und das wissen Sie sehr genau. Die Möglichkeit zur Zusammenarbeit haben wir seit vielen Jahren vertan.”
“Sie sprechen von der Vergangenheit, ich rede von der Gegenwart”, hielt er Mrs Wardour vor.
Die Aussicht, wieder zusammen an einem Projekt zu arbeiten, erregte ihn ebenso wie Marys Nähe. Unwillkürlich schmunzelte er im Stillen bei dem Gedanken, was die Leute sagen würden, wüssten sie, dass eine derart trockene Materie wie Mathematik dazu beitragen konnte, ihm sinnliche Regungen zu vermitteln. Er kam sich jung und unbeschwert vor und hatte wie einst als Zwanzigjähriger das Gefühl, die ganze Welt erobern zu können.
“Sie haben soeben geäußert, Sie seien durch meine Berechnungen in großes Erstaunen versetzt worden”, fuhr er eindringlich fort. “Wie viel mehr ließe sich erreichen, wenn wir unsere Bemühungen kombinieren? Ich schlage jedoch vor, dass wir, ehe wir das tun, eine Partie Schach spielen.”
Er wirkte so eifrig auf Mary, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. “Also gut”, willigte sie ein und kam sich irgendwie schon jetzt als Verliererin vor, weil sie nachgegeben hatte.
Die Figuren wurden für eine neue Partie aufgestellt. Russell legte großen Wert darauf, das Spiel zu gewinnen, fragte sich jedoch, aus welchem Grund. Früher hatte er manchmal gegen Mary verloren, doch nun durfte er nicht unterliegen, wenngleich es mehr und mehr so aussah, dass sie ihn besiegen würde. Angestrengt war er bemüht, ihre Züge vorauszuahnen und sie in die Enge zu treiben, doch schließlich ergab sich ein
Weitere Kostenlose Bücher