Eine Braut muss her!
ihre Gesellschafterin geäußert hatte, dem Viscount gehe der Ruf voraus, ein oberflächlicher, leichtlebiger Mensch zu sein. Nachdem sie sich ausgiebig mit ihm unterhalten hatte, fand sie, dass dieses Urteil unzutreffend sei. Ihr war jedoch aufgefallen, dass er nicht mit sich zufrieden zu sein schien. Offenbar beneidete er seinen glücklich verheirateten und ruhmreich aus dem Krieg zurückgekehrten Zwillingsbruder, der fest umrissene Vorstellungen von seinem Leben hatte.
Plötzlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf und fragte sich, wieso sie derart ausgiebig über ihren ehemaligen Verehrer nachdachte, selbst wenn er sie, was nicht zu leugnen war, immer noch stark beeindruckte.
Die Liebelei mit ihm gehörte der Vergangenheit an und würde nicht aufgefrischt werden.
Wider Willen kamen ihr jedoch die Ereignisse vor dreizehn Jahren ins Gedächtnis zurück, und sie erinnerte sich in allen Einzelheiten an die erste Begegnung mit Lord Hadleigh. Sie war siebzehn Jahre alt gewesen und hatte vom Vater, der nicht an einem College in Oxford lehrte, sondern als Mathematiker weit über die Landesgrenzen hinaus einen exzellenten Ruf genoss, erfahren, er erwarte an diesem Tag einen neuen Privatschüler.
“Ich befürchte, heute musst du darauf verzichten, mit mir zu arbeiten”, hatte er gesagt. “Mr Wilkinson hat mir anvertraut, seiner Ansicht nach sei dieser junge Mann sehr intelligent, und es könne ihm nur förderlich sein, mit mir zu studieren. Bei dem Gentleman handelt es sich um den Spross einer alten Adelsfamilie, und das ist insofern erstaunlich, als Söhne aus aristokratischem Haus im Allgemeinen nicht sehr klug sind, Lord Cavendish natürlich ausgenommen, der, wie du weißt, auf dem Gebiet der Chemie zu bemerkenswerten Forschungsergebnissen gelangt ist.”
“Wer ist der junge Mann, auf den du dich beziehst?” hatte Mary sich neugierig erkundigt.
“Er heißt Russell Chancellor, Viscount Hadleigh, und ist der Erbe des Earl of Bretford. Falls ich zu der Überzeugung gelangen sollte, dass er den von mir in ihn gesetzten Erwartungen entspricht, wäre es denkbar, dich gleichzeitig mit ihm zu unterrichten. Doch das wird sich zeigen.”
Mary entsann sich, dass der Titel des Gentleman sie sehr beeindruckt und sie sich fest vorgenommen hatte, sich beim gemeinsamen Unterricht nicht zu blamieren. Sie hatte jedoch befürchtet, er könne befremdet sein zu hören, dass sie an den Stunden teilnehmen würde. Wann immer sie jemandem erzählt hatte, gleich, welchen Alters, sie werde vom Vater in höherer Mathematik unterwiesen, war die Reaktion der Leute stets die gleiche gewesen – Unverständnis, Engstirnigkeit und sogar Entrüstung.
Tante Charlotte hatte ihr sogar dringend geraten, einem Verehrer gegenüber nie zu erkennen zu geben, wie gebildet sie sei, denn dadurch würde sie sich alle Chancen auf eine Heirat verscherzen. Jahre später hatte Mary jedoch vernommen, dass Miss Milbanke, eine hervorragende Mathematikerin und Koryphäe auf dem Gebiet der Geometrie, Lord Byrons Gattin geworden war. Allerdings war die Ehe bald zerbrochen, vielleicht ein Beweis dafür, dass Tante Charlotte mit ihrer Behauptung doch recht hatte.
Im Verlauf des Vormittags hatte das Dienstmädchen Mary mitgeteilt, der Vater wünsche sie in seinem Arbeitszimmer zu sprechen. Aufgeregt war Mary zu ihm gelaufen und hatte einen jungen Mann mit dem Rücken zu sich vor dem Schreibtisch stehen gesehen, hinter dem der Vater saß. Als der Gentleman sich umdrehte, hatte sie bei seinem Anblick das Gefühl gehabt, vom Blitz getroffen zu sein, weil er mit dem klassisch geschnittenen Gesicht, dem lockigen blonden Haar und den blauen Augen außerordentlich gut aussah, wie eine lebendig gewordene Statue des jungen Herkules oder des Gottes Apoll.
Sie erinnerte sich nicht mehr, was der Vater damals geäußert hatte. Vermutlich hatte er Lord Hadleigh mit ihr bekannt gemacht und hinzugefügt, er habe vor, ihn gemeinsam mit ihr zu unterrichten. Sie wusste indes noch genau, dass sie überlegt hatte, wie sie imstande sein sollte, in Gegenwart eines so hinreißend männlichen Wesens je etwas Vernünftiges von sich zu geben.
Er schien jedoch gemerkt gehabt zu haben, dass sie bei seinem Anblick aus dem inneren Gleichgewicht geraten war. “Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen, Miss Beauregard”, hatte er höflich geäußert und sich galant verneigt. “Man trifft nicht oft auf eine Dame, die offenbar so intelligent und gleichzeitig so bezaubernd ist wie
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