Eine dunkle Geschichte (German Edition)
Verhängnis. Fünf Tage nach der Verhaftung der Edelleute wurde sie in dem Augenblick, als sie zu Bett gehen wollte, gegen zehn Uhr abends von ihrer Mutter, die zu Fuß vom Pachthofe kam, in den Hof gerufen.
»Ein Arbeiter aus Troyes will dir etwas von Michu bestellen. Er erwartet dich im Hohlwege«, sagte sie zu Martha.
Beide gingen durch die Bresche, um den kürzesten Weg zu nehmen. Im Dunkel der Nacht und des Weges vermochte Martha nur die Gestalt eines Menschen zu erkennen, die sich von der Finsternis abhob.
»Reden Sie, Frau, damit ich erkenne, ob Sie Frau Michu sind«, sagte der Mann mit ziemlich unruhiger Stimme.
»Gut«, sagte der Unbekannte. »Geben Sie mir Ihre Hand. Haben Sie keine Angst vor mir. Ich komme von Michu,« fuhr er fort, sich zu Marthas Ohr neigend, »um Ihnen ein paar Zeilen zu bringen. Ich bin im Gefängnis angestellt, und wenn meine Vorgesetzten merkten, daß ich fort bin, wären wir alle verloren. Vertrauen Sie mir. Ihr braver Vater hat mich seinerzeit dort angestellt. Deshalb hatte auch Michu Vertrauen zu mir.«
Er drückte Martha einen Brief in die Hand und verschwand nach dem Walde, ohne eine Antwort abzuwarten. Martha schauderte bei dem Gedanken, daß sie nun zweifellos das Geheimnis der Sache erfahren würde. Sie lief mit ihrer Mutter nach dem Pachthofe, schloß sich ein und las den folgenden Brief:
»Liebe Martha,
Du kannst Dich auf die Verschwiegenheit des Mannes verlassen, der Dir diesen Brief überbringt. Er kann weder lesen noch schreiben und ist einer der sichersten Republikaner aus der Verschwörung Baboeufs. Dein Vater hat ihn oft benutzt, und er sieht den Senator als Verräter an. Nun, liebe Frau, der Senator ist von uns in den Keller gesperrt worden, in dem wir schon unsre Herren versteckt hatten. Der Elende hat nur für fünf Tage Lebensmittel, und da es in unserm Interesse liegt, daß er am Leben bleibt, so bringe ihm gleich nach Empfang dieser Zeilen Lebensmittel für mindestens fünf Tage. Der Wald muß überwacht sein; triff also ebensoviel Vorsichtsmaßregeln, wie wir es bei unsern jungen Herren taten. Sage Malin kein Wort, sprich nicht mit ihm und lege eine unserer Masken an, die Du auf einer der Kellerstufen finden wirst. Willst Du unsre Köpfe nicht in Gefahr bringen, so wahre tiefstes Schweigen über das Geheimnis, das ich Dir anvertrauen muß. Sage Fräulein von Cinq-Cygne kein Wort davon; sie könnte schwatzen. Fürchte nichts für mich. Wir sind des guten Ausgangs der Sache gewiß, und wenn es sein muß, wird Malin unser Retter sein. Schließlich brauche ich Dir nicht zu sagen, daß Du diesen Brief verbrennen mußt, sobald Du ihn gelesen hast, denn er kostete mir den Kopf, wenn man eine einzige Zeile davon läse. Ich umarme Dich vieltausendmal.
Michu.«
Das Vorhandensein des Kellers unter der Bodenerhebung mitten im Walde war nur Martha, ihrem Sohne, Michu, den vier Edelleuten und Laurence bekannt. Wenigstens mußte Martha dies glauben, denn ihr Mann hatte ihr nichts von seiner Begegnung mit Peyrade und Corentin gesagt. Somit konnte der Brief, der ihr übrigens von Michu geschrieben und unterzeichnet schien, nur von ihm kommen. Gewiß, hätte Martha sofort ihre Herrin und deren beide Berater gefragt, die die Unschuld der Angeklagten kannten, so hätte der verschlagene Anwalt irgendeine Aufklärung über die Ränke erlangt, mit denen man seine Klienten umspann. Aber Martha, die wie die meisten Frauen ganz ihrer ersten Regung folgte und durch diese Überlegungen, die ihr in die Augen sprangen, überzeugt war, warf den Brief in den Kamin. Trotzdem zog sie in einer eigenartigen Erleuchtung der Vorsicht die unbeschriebene Seite des Briefes und die ersten Zeilen, deren Inhalt niemanden bloßstellen konnte, aus dem Feuer zurück und nähte sie in den Saum ihres Rockes ein. Ziemlich erschreckt, daß der Gefangene seit vierundzwanzig Stunden fastete, wollte sie ihm noch in dieser Nacht Wein, Brot und Fleisch bringen. Ihre Neugier wie ihre Menschlichkeit erlaubte ihr nicht, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie heizte ihren Ofen, machte mit Beihilfe ihrer Mutter eine Pastete aus Hasen- und Entenfleisch, einen Reiskuchen, briet zwei Hühner, nahm drei Flaschen Wein und buk selbst zwei runde Brote. Gegen halb drei Uhr morgens machte sie sich auf den Weg nach dem Walde. Sie trug alles in einer Kiepe und nahm Couraut mit, der bei all diesen Unternehmungen mit seltener Intelligenz als Aufklärer diente. Er witterte Fremde auf riesige Entfernungen, und hatte
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