Eine ehrbare Familie
einem Freitagabend munter und glücklich von einem Einkaufsbummel heimgekehrt und mit einem Hirnschlag am Fuß der Treppe tot umgefallen.
Giles rief sich nur selten diesen schrecklichen Tag ins Gedächtnis zurück. Er dachte überhaupt nur selten an seine Vergangenheit, es sei denn, er fand es nützlich, auf persönliche Erfahrungen zurückzugreifen. Die Ereignisse der letzten Wochen jedoch hatten ihn gezwungen, die Sicherheit seiner privaten, geistigen Festung zu verlassen. Der Tod seines älteren Bruders hatte nicht nur alte Erinnerungen geweckt, sondern auch eine Lawine dringender Probleme ausgelöst. Eines dieser Probleme war, zumindest im Moment, durch Vernon Kells Anruf beseitigt worden.
Im Unterschied zu den anderen Railtons war Giles nicht von hohem Wuchs. Er hatte mit vierzehn Jahren eine Größe von einem Meter fünfundsechzig erreicht und war dann nicht mehr gewachsen. Aber ansonsten wies er alle typischen Railton-Merkmale auf:
die vorspringende Nase, die hellen Augen und das volle Haar, das jetzt anfing, grau zu werden. Giles war einundsechzig Jahre alt.
Es war seltsam, überlegte er, daß in der Railton-Familie die Kinder oft in so großen Abständen zur Welt gekommen waren. Die beiden Söhne des Generals, John und Charles, waren zwölf Jahre auseinander. Giles wußte auch noch von einem anderen Kind des Generals, das vor zwölf Jahren geboren worden war, aber natürlich nie erwähnt wurde. Der General hatte gewiß kein Mönchsleben geführt nach dem Tod seiner Frau Nellie, die im Herbst 1884 bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war.
In den Augen seiner Kollegen war Giles Railton nur einer der vielen hohen Staatsbeamten - ein Veteran, der auf den unvermeidlichen Herbst seiner Tage wartete. Doch nichts lag der Wahrheit ferner, denn Giles Railton hatte erst kürzlich den Höhepunkt seiner Karriere erreicht.
In den amtlichen Papieren und Dokumenten wurde er als «ranghöchster Berater für auswärtige Angelegenheiten» geführt. Doch sein offizielles Dossier enthielt mehr Fiktionen als Fakten, und das schon seit Jahrzehnten. Die Akten erwähnten nicht die Rolle, die er beim Erwerb der Suez-Kanal-Aktien für die Regierung gespielt hatte, noch seine Reisen nach Indien oder seinen zweijährigen Aufenthalt in Ägypten. Die gestochene Handschrift verriet weder seine häufigen Aufenthalte und Reisen durch ganz Europa noch deren Anlaß und Zweck. Auch seine heimlichen Zusammenkünfte in Rußland waren nirgends vermerkt. Während die Diplomaten mit dem Zaren und dessen Beratern verhandelt hatten, hatte Giles sich mit Lenin, Trotzki und anderen Revolutionären getroffen, um deren gefährliche politische Ideen zu begreifen und zu analysieren.
Es war in diplomatischen Kreisen wohl bekannt, daß er jetzt Vorsitzender eines Komitees für das Chefbüro der Imperialen Defensive, kurz CID genannt, war, aber niemand nahm diesen Posten sehr ernst.
Viele meinten, daß er vielleicht glücklicher an einer Universität wäre, zum Beispiel als Professor der Geschichte, wobei sie allerdings übersahen, daß sein Interesse sich rein auf die Militärgeschichte und das Studium der Strategie und Taktik beschränkte; daher seine Begeisterung für das Spielen mit Soldaten in seinem «Versteck». Dort umgab er sich mit Landkarten, Büchern und Hunderten von Zinnsoldaten. Diese fixe Idee stammte noch aus seiner Kindheit, als er es seinem älteren Bruder gleichtun wollte.
Für Giles war sein älterer Bruder William sogar noch in den letzten Jahren eine Art Gott gewesen und vermutlich der einzige Mensch, vor dem er keine Geheimnisse hatte.
Giles hatte sich fast gegen seinen eigenen Willen politischen Ideen zugewandt, die ihn schlaflose Nächte kosteten. Er machte sich Sorgen um die Regierung Asquith und deren Pläne für Reformen, besonders was die irische Frage und die Selbstregierung Irlands anbetraf. Doch am meisten Sorgen machte er sich um seine Familie. Sonderbarerweise war seine Familie und deren Geschichte für ihn von großer Bedeutung, obwohl er ererbte Privilegien und Standesunterschiede für sehr anfechtbar hielt.
Seine Söhne Andrew und Malcolm und seine Tochter Marie wußten über seine Tätigkeit Bescheid und brachten daher für das gelegentlich seltsame Verhalten ihres Vaters volles Verständnis auf. Andrew war mit dem geheimnisumwitterten Gewerbe seines Vaters auch beruflich in Berührung gekommen, denn er hatte die letzten zwei Jahre in der Admiralität als Flaggoffizier des Direktors der
Weitere Kostenlose Bücher