Eine ehrbare Familie
werden, wenn es sich um Spione handelt, selbst zu Freunden.»
Er gab ihr noch weitere Anweisungen; zum Schluß überreichte er ihr die Fahrkarte für die Nachtfähre nach Calais und ein Bahnbillett dritter Klasse nach Paris. Beide Billetts galten nur für eine Fahrt.
Während er auf einem anderen Weg nach Eccleston Square zurückkehrte, dachte Giles an das letzte Gespräch, das er mit seiner Tochter Marie über ihre Arbeit geführt hatte. Es hatte am Weihnachtsnachmittag im Arbeitszimmer des Generals stattgefunden. Der Rauhreif hatte den Rosengarten weiß gefärbt, und das Tageslicht war langsam verblaßt. Ihr Mann hatte im Ledersessel gesessen und die Apathie seines Landes scharf kritisiert.
«Sie sagen: «Warum sollten die Deutschen uns angreifen? Sie werden keinen neuen Krieg beginnen, und gegen die Engländer unternehmen sie ganz bestimmt nichts. Schließlich sind die königlichen Familien miteinander verwandt.»» Er hatte eine geradezu bühnenreife französische Aussprache. «Die maßgeblichen Politiker meines Landes sind wie Taubstumme. Sie nicken und lächeln und machen den Eindruck, als würden sie alles verstehen. Aber tatsächlich begreifen sie nur sehr wenig.» Er zuckte die Achseln. «Und unsere Generale sind für einen modernen Krieg schlecht ausgerüstet.»
Giles sagte, daß es wohl kaum zu einem Krieg kommen würde, aber dachte bei sich, daß es immer besser war, auf der Hut zu sein.
«Es ist das gleiche hier.» Seine Stimme klang müde. «Die Politiker wie die übrigen Bewohner dieses Landes sind vor allem darauf bedacht, den Status quo zu erhalten. Die Militärs denken an vergangene Schlachten und planen längst überholte Feldzüge. Niemand lernt aus der Geschichte.»
Nach einem kurzen Schweigen warf Marcel seiner Frau einen Seitenblick zu. «Marie tut alles, was sie kann. Sie befolgt deine Anweisungen genau.»
Giles’ Lächeln war so frostig wie das Wetter draußen. Er fragte seine Tochter, ob sie noch immer eine Liebelei mit dem deutschen Militärattache vortäusche.
Marcel erwiderte bitter, daß von vortäuschen wohl kaum die Rede sein könnte.
«Ihr Heuchler!» rief Marie empört. «Ich liebe meinen Mann und sonst niemand. Frankreich ist das Land meiner Wahl, aber ich bin und bleibe Engländerin.» Plötzlich grinste sie. «Außerdem ist er nicht der Militärattache, sondern nur sein Sekretär.»
«Klaus von Hirsch», sagte Marcel mürrisch, «hat einen schlechten Ruf bei den Damen.»
«Was ihn, wie mein Vater so richtig feststellte, besonders zugänglich macht. Der Sekretär des deutschen Militärattaches redet eine Menge, wenn er erst mal Vertrauen gefaßt hat.»
«Und du hast sein Vertrauen?» Giles machte keine Ausnahmen, er behandelte seine Tochter wie jede andere Agentin.
«So scheint es. Es wird nur noch wenige Monate dauern, bis ich im Besitz von allen Einzelheiten des deutschen Schlachtplans bin.»
«Welcher Plan?»
«Oh, du weißt schon - der berühmte Plan des Graf von Schlieffen. Laß mir etwas Zeit, und du wirst alles bekommen.»
Giles bemerkte, daß der Schlieffenplan allmählich reichlich überholt sei. «Generalstabschef des Kaisers, Graf Schlieffen, hat sich vor drei Jahren aus Gesundheitsgründen pensionieren lassen. Sein Nachfolger ist General Moltke, ein fähiger Mann, und er wird zweifellos seinen eigenen Feldzugsplan haben.»
«Da bin ich mir nicht so sicher.» Marie konnte so hartnäckig wie ihr Vater sein. «Graf von Schlieffen wird noch heute sehr verehrt. Die Generalstabsoffiziere erstatten ihm auch jetzt noch Bericht. Klaus hat mir gesagt, Moltke wage es nicht, den Plan zu verändern -und der Plan bezieht mit Sicherheit Belgien und Frankreich ein. Also, soll ich weitermachen?»
Giles nickte. «Ja, mach weiter wie bisher, und verschaff mir soviel Einzelheiten wie möglich über den Plan. Auf jede nur erdenkliche Weise.»
Als er jetzt auf dem Rückweg, nachdem er Monique ihre Instruktionen gegeben hatte, über dieses Gespräch nachdachte, erkannte Giles Railton, daß er nicht die geringsten Gewissensbisse darüber empfand, daß er seiner Tochter sozusagen erlaubt hatte, ein Verhältnis mit einem deutschen Offizier anzufangen.
Er war kein zimperlicher Mann. Vor einiger Zeit, Ende der achtziger Jahre, hatte er einen seiner ältesten Freunde erdrosselt, als er herausgefunden hatte, daß dieser Informationen an die irischen Rebellen weitergegeben hatte. Er hatte keine Sekunde gezögert und auch keine schlaflosen Nächte nach der Tat verbracht. Später
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