Eine ehrbare Familie
wollen. Und jetzt ist der Moment gekommen. Unsere offiziellen Leute sind raus, aber wir haben noch einige Agenten und auch Verbindungsleute zu den Weißrussen im Land. Bevor Sie Ihren endgültigen Einsatzbefehl bekommen, möchte ich jedoch, daß Sie einen Mann kennenlernen. Er ist ein Schuft und ein Abenteurer, undiszipliniert und geneigt, private und komplizierte Unternehmungen auf eigene Rechnung durchzuführen, aber durchaus sympathisch. Vielleicht begegnen Sie ihm irgendwo, denn ich spiele mit dem Gedanken, ihn wieder hinzuschicken. Er heißt Sidney Reilly. Er wird Ihnen einige nützliche Tips geben.»
Roy fand Reilly charmant und robust, allerdings war es schwer zu beurteilen, wann er die Wahrheit sagte und wann er log. Reilly beschrieb ihm das Minenfeld, das ihn erwartete. «Trauen Sie niemand», sagte er. «Die Ereignisse überstürzen sich, und der Freund von gestern kann der Feind von morgen sein.» Das gleiche hatte sein Großvater ihm gesagt.
Sie gaben Roy drei Namen und drei Identitäten, Papier, Gold, das er in einem Gürtel trug, und eine deutsche Pistole. Zusätzlich mußte er einige Namen und Adressen von Verbindungsleuten auswendig lernen. Seine Aufgabe war, möglichst viele Informationen über Lenins Revolutionskomitee zu sammeln. «Sie werden den Weg über Helsinki nehmen», sagte C. «Und sobald Sie in Rußland sind, begeben Sie sich nach Petrograd. Sie sind ein Student der Literatur und der politischen Wissenschaften aus Moskau namens Wladimir Christianowitsch Galinski. Sie sind während der ersten Kämpfe abgedrängt und leicht verwundet worden und versuchen jetzt, Ihre Kameraden wiederzufinden, um sie beim Endkampf zu unterstützen. Das ist Ihre Geschichte. Wir können Sie ins Land schmuggeln und Ihnen bei der Informationsübermittlung helfen. Den Rest müssen Sie selbst übernehmen.»
Roy dachte: Und dieser Rest ist Schweigen. Was in vieler Hinsicht stimmte. Vierundzwanzig Stunden nach Roys Abfahrt erlitt sein Großvater einen Schlaganfall.
Denise, beunruhigt, daß ihr Großvater nicht wie üblich zum Frühstück erschienen war, hatte Robertson in Giles’ Zimmer geschickt. Der Diener fand seinen Herrn halb angezogen auf dem Boden liegen. Er war leicht sprechbehindert, aber die Ärzte meinten, mit etwas Ruhe würde sich das geben. Er sei stark wie der sprichwörtliche Ochse und könne sie noch alle überleben.
Roy betrat am 14. Oktober 1918 russischen Boden, aber er brauchte fast zwei Wochen, um Petrograd zu erreichen, wo er in der Nähe des Smolny-Instituts eine Unterkunft fand. Am Morgen des 29. Oktober lungerte er am Ende der Gorochowaia herum. Wie alle Railtons war er schlank und groß. Sein blondes Haar verschwand unter einer Pelzmütze; er hatte sich einen dichten Bart wachsen lassen und trug eine Lammfelljacke und Lederhosen, die in schweren Stiefeln steckten. In der rechten Hand hielt er eine Maurerkelle. Seine Art, sich zu bewegen, und die innere Ruhe, die selbst bemerkbar war, wenn er ging, würden sich nie ändern. Aber weder Andrew noch Charlotte hätten ihn wiedererkannt.
In Petrograd herrschte Chaos. Gelegentlich wurde geschossen und gekämpft. Die Obrigkeit war über Nacht verschwunden. Niemand wußte Bescheid.
Am Abend des 29. Oktober ging Roy durch die unsicheren Straßen, beobachtete Banden von Jugendlichen, die hauptsächlich auf Plünderung und Brandstiftung aus zu sein schienen.
Einige Frauen standen Schlange vor den Läden in der Hoffnung, daß ein Wunder geschähe und ein Lebensmitteltransport ankäme. Unternehmungslustigere zogen aus der Stadt hinaus und plünderten Bauernhöfe.
Viele Menschen standen in kleinen Gruppen zusammen, die Stärksten übernahmen die Führung, obwohl die Hälfte von ihnen nur politische Vagabunden waren. Er schloß sich einer Gruppe an.
Sie ließen sich in einem Haus in der Nähe des alten finnischen Bahnhofs nieder und redeten und diskutierten die ganze Nacht über. Bei Morgengrauen schlich Roy sich davon. Männer und Frauen lungerten noch immer auf den Straßen herum. Junge, bis zu den Zähnen bewaffnete Männer marschierten vorbei und versuchten, gefährlich auszusehen.
Roy trug seine Kelle wie ein Amtszeichen. Vielleicht glich sie zu sehr einem Amtszeichen, oder vielleicht sah sie wie eine Waffe aus. Drei junge Tschekisten hielten ihn an und fragten ihn nach seinem Namen und seinen Papieren. Einer ergriff seine Maurerkelle und schien ihm mit ihr drohen zu wollen.
«Sind Sie Wladimir Christianowitsch Galinski?» fragte
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