Eine ehrbare Familie
er.
«Ja.»
«Sie stammen aus Moskau?»
«Ursprünglich ja.»
«Warum sind Sie jetzt nicht dort?»
Roy erzählte seine Geschichte. Die drei Männer umzingelten ihn, tauschten Blicke aus, reichten einander die Papiere weiter, als seien sie gefälscht. Schließlich erklärte der Anführer, Galinski müsse mit ihnen kommen.
«Warum? Ich habe nichts getan. Wohin gehen wir?»
«Nur bis zum Ende der Straße. Nummer zwei, zum Hauptquartier der Tscheka. Ein paar Fragen.»
Um fünf Uhr nachmittags des gleichen Tages brachten sie ihn zum Bahnhof. Vier Männer begleiteten ihn, sie brauchten zwei Tage bis Moskau. Oktober 1918 war nicht die beste Zeit, um in Rußland zu reisen.
In Moskau schien Ruhe zu herrschen, aber die Atmosphäre war seltsam - eine Mischung aus Euphorie und Spannung.
«Wohin gehen wir?» fragte Roy.
«Nicht weit. Ins neue Tscheka-Hauptquartier, Bolschaia Lubianka Nummer elf in der Nähe des Kremls.»
Sie schubsten ihn ins Haus und die Treppe hinauf in ein großes Büro, in dem nur ein Stuhl und ein Tisch standen, hinter dem ein Mann saß.
Der Mann war in ein Dokument vertieft und murmelte: «Setzen Sie sich.» Dann sagte er zu Roys Begleitern, er wünsche, allein gelassen zu werden.
Der Mann sah Roy an. Sein Blick war kalt, fragend, fast amüsiert, eine Haarsträhne fiel ihm über die hohe Stirn. Über seinem harten Mund bog sich der Schnurrbart an beiden Enden hoch, sein Spitzbart war sorgfältig gestutzt. Etwas Unerbittliches, Kompromißloses ging von ihm aus.
Dann lächelte er, und Roy lief ein kalter Schauer über den Rücken wie bei den seltenen Momenten, wenn der Blick seines Großvaters eisig wurde. «Willkommen, Mr. Roy Railton.» Er sprach kein reines Russisch. «Wir haben Sie erwartet. Mein Name ist Feliks Edmundowitsch Dzerschinskij, wir haben eine Menge miteinander zu reden.»
Roy dachte wieder: Der Rest ist Schweigen. Feliks Dzerschinskij war der allmächtige Chef der revolutionären sowjetischen Geheimpolizei.
Roy sollte recht behalten. Der Rest war Schweigen. Der Name Roy Railton verschwand aus den offiziellen Akten.
Als Charles nach dem Wochenende in Redhill ins Büro zurückkehrte, gewöhnte er sich nur widerstrebend an die Schreibtischarbeit.
Nach zwei Monaten fühlte er sich ein wenig erleichtert, denn Brenner hatte ihn zu keiner Zusammenkunft mehr bestellt.
Falls Charles während dieser Zeit bemerkte, daß seine Bewegungsfreiheit innerhalb des Ml 5 eingeschränkt worden war, so ließ er sich das nicht anmerken. Vernon Kell verhielt sich freundlich wie immer und sah ihn oft.
Die Bombe platzte erst über ein Jahr später im Oktober 1918.
Die Anklage gegen Charles wurde nicht öffentlich bekanntgemacht, aber die Familie erfuhr aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Beziehungen die volle Wahrheit innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
Die Reaktion der Familie war voraussehbar. Die schlimme Nachricht von Charles’ Verhaftung folgte kurz nach einem freudigen Ereignis. Sara hatte im September einen Sohn zur Welt gebracht. Sogar Giles hatte von seinem Krankenbett aus einen Brief geschickt, in dem er zu verstehen gab, daß die Familie, obwohl dieser Sohn kein direkter Blutsverwandter sei, ihn dennoch als einen Railton ansah.
«Die höchste Ehrung, die Giles zu vergeben hat», sagte Sara.
Jeder spürte, daß der Frieden in Sicht war, aber nur wenige ahnten, daß er so nah bevorstand. Als die Mitteilung über Charles eintraf, reagierten sie alle verschieden. Dann bildeten sie eine geschlossene Front. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Andrew faßte die Gefühle der Familie in folgenden Worten zusammen: «Wenn das, was man Charles vorwirft, wahr ist, dann haben
Rupert und Caspar umsonst gekämpft; Mary Anne ist für nichts durch eine Hölle gegangen; Dick Farthings Rettungsaktion war sinnlos; und Denise hat ohne Grund gelitten. Aber noch schlimmer als all das: wenn ein Mann wie Charles mit seiner Familientradition, seiner Erziehung und seinen Vorrechten sich des Verrats schuldig gemacht hat, dann sind Zehntausende von jungen Männern in Flandern und Frankreich und im Nahen Osten für eine Illusion gestorben.»
An dem Morgen, als es geschah, betrat Charles wie üblich sein Büro um halb zehn Uhr. Er verhielt sich nach allgemeiner Ansicht völlig normal und war auch nicht erstaunt, als Granby, der Quartiermeister, um neun Uhr sechsundvierzig zu ihm kam, ein Formular vorwies und Charles bat, ihm seine persönliche Waffe -die Webley - auszuhändigen. «Nur
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