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Eine ehrbare Familie

Titel: Eine ehrbare Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Gardener
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die Abteilfenster, scheinbar auf der Suche nach einem freien Platz. Er nahm alles in sich auf: die aus dem Urlaub zurückkehrenden Soldaten, die nervösen jungen Mädchen, die Glasgow und ihr Zuhause verließen, um in der Hauptstadt ihr Glück zuversuchen, die bürgerlichen Paare, die sich zum Abschied umarmten.
    Er erreichte die Zugmitte und die Waggons erster Klasse. Eine Gruppe junger, beschwipster Offiziere, aus deren Gepäck Flaschen herausragten, versuchte, sich für die Rückkehr an die Front Mut anzutrinken. Der Zug war nicht voll. Dann sah er den «Fischer». Er saß allein in einem Abteil auf einem Fensterplatz und las Zeitung. Jetzt hatte er ihn in der Zange.
    Er ging weiter den Zug entlang und zählte die Waggons. Erst als der Bahnhofsvorsteher die grüne Scheibe hob, bestieg er den vordersten Wagen.
    Der Zug verließ den Bahnhof. Charles trat langsam den Rückweg an in Richtung auf das Abteil, wo der ahnungslose «Fischer» saß.
    Zuerst dachte er, er hätte sich verzählt. Der Mann saß nicht im Abteil. Charles setzte seinen Gang bis zum Zugende fort; er durchquerte den Speisewagen in der Hoffnung, ihn dort zu entdecken, drängte sich an den Männern und Frauen vorbei, die die Korridore in der dritten Klasse blockierten. Schließlich erreichte er das Zugende mit dem abgeschlossenen Gepäckwagen.
    Noch einmal ging Charles die schwankenden Korridore entlang. Der Zug gewann an Geschwindigkeit. Wieder kein Zeichen von dem riesigen Mann mit der verbrannten Backe und dem Holzbein.
    Schließlich kam er zu dem Schluß, daß der «Fischer» aus dem Zug gesprungen war, denn er war nirgends zu sehen. Charles kannte die plötzlichen Ängste von Agenten, die Intuition, die sie veranlaßte, ihre Pläne zu ändern, auf Nummer Sicher zu gehen, niemand zu trauen, sich aus dem Staub zu machen. Er fühlte sich betrogen wie ein Jäger, dem seine Beute entkommen war.
    Er fand ein Abteil in einem fast leeren Waggon und machte es sich bequem. Er würde gleich bei Ankunft Kell Bericht erstatten, damit er Wood und Partridge Bescheid sagen konnte.
    Kurz vor Carlisle öffnete sich die Abteiltür. Charles blickte hoch, und sein Magen krampfte sich zusammen, denn vor ihm stand der «Fischer». Er sah aus wie die Karikatur eines Spions: schwarzer Mantel, breitrandiger Hut und eine automatische Mauser-Pistole in der riesigen Pranke.
    Für seine Größe und sein Gewicht war er erstaunlich behende. Während die Tür aufglitt und sich mit einem Klicken wieder schloß, war die Pistole auf Charles gerichtet, mit der anderen Hand zog der «Fischer» die drei Rouleaus an den Fenstern zum Korridor herunter.
    Dann setzte er sich lächelnd Charles gegenüber. Der Zug fuhr durch Carlisle. Vor ihnen lag die lange Strecke nach Manchester.
    «Mr. Charles Railton, wenn ich nicht irre?» Die Stimme hatte keinen gutturalen Anklang, nichts Fremdländisches.
    Charles blickte auf die Pistole und dann auf das vom Feuer in Glen Devil grauenvoll entstellte Gesicht.
    «Ich fürchte, Sie sind mir gegenüber im Vorteil...» Ein wenig dümmlich, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken. «Mein Name ist Rathbone, Leonard Cyril Rathbone.»
    «Und ich glaube, Sie heißen Railton - das heißt, ich weiß es mit Bestimmtheit.» Der «Fischer» sprach ruhig und sachlich. «Sie sind mir durch ganz Schottland gefolgt, ich habe Sie dabei beobachtet, auch heute morgen im Hotel.»
    Charles’ Gesicht mußte Erstaunen verraten haben, denn sein Gegenüber fuhr fort: «Hat man Ihnen nicht beigebracht, daß eine Verkleidung nutzlos ist, es sei denn, sie ist vollkommen? Das Fischgrätenmuster Ihres Anzugs, der Schnitt des Jacketts, der Hut-also wirklich, Mr. Railton! Ein Schnurrbart und eine Brille verändern zwar das Gesicht, aber Kleider machen Leute, Kleider und Schuhe.»
    Charles schwieg. Der «Fischer» sah ihm in die Augen. Dann brach Charles das Schweigen und sagte, auf die Waffe weisend: «Entspricht nicht Ihrem Stil, Sir. Wo ist der weiße Schal heute, oder Ihre Sprengladung, oder die Axt, die Sie vor so langer Zeit in Irland benutzten, als ich Sie zum ersten Mal sah?»
    Das Lachen des «Fischers» war nicht unsympathisch, ja sein ganzes Benehmen war fast zuvorkommend. «Ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen, Mr. Railton.»
    «Wieso das?»
    «Unsere gemeinsame Freundin Fräulein Haas wurde mit einem weißen Schal umgebracht. Aber ich habe es nicht getan. Sie vielleicht?»
    «Nein, wie Sie selbst wissen.»
    Der Zug rumpelte über Weichen, der Rhythmus wechselte.

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