Eine ehrbare Familie
Giles’ Tochter hatte Klaus von Hirsch bislang auf Distanz gehalten.
«Aber warum sträuben Sie sich, Marie?» Diese Frage hatte Klaus von Hirsch oft gestellt und wiederholte sie jetzt wieder, als er versuchte, Marie zu umarmen.
Doch Marie entwand sich ihm, ging zum Sofa und setzte sich. Sie war erstaunlich graziös für eine so große Frau, und ihre Bewegungen waren abgemessen und präzise. Ihr Mann hätte bestätigen können, daß seine hochgewachsene, schöne Frau im Bett leicht wie eine Feder war und durch irgendeinen Zaubertrick mit dem Körper ihres Partners zu verschmelzen schien. Jetzt sagte sie in strengem Tonfall: «Setzen Sie sich hin, Klaus. Letzte Woche sind wir zu weit gegangen.» Dann fügte sie sanfter hinzu: «Lassen Sie mir Zeit, Sie wissen doch, wie ich bin...»
Klaus verzog den Mund wie ein Schuljunge, dem man nicht zu spielen erlaubt.
«Aber Klaus, machen Sie nicht so ein Gesicht. Sie wissen doch, daß ich gern mit Ihnen schlafen möchte, aber ich würde zu große Gewissensbisse haben.» Sie sah ihn an. «Glauben Sie, daß eine Frau zwei Männer gleichzeitig lieben kann?»
«Warum nicht? Ein Mann kann ja auch zwei Frauen lieben.» Klaus wußte instinktiv, daß dies die richtige Antwort war. Er stand auf, um zum Sofa zu gehen.
Aber sie hob warnend die Hand. «Nein, Klaus. Nicht heute... aber ich verspreche Ihnen... vielleicht am Donnerstag. Könnten wir uns am Donnerstag nicht irgendwo treffen, wo wir allein sind...»
«Ich habe am Donnerstag keine Zeit.»
«Dann am Freitag. Aber warum haben Sie am Donnerstag keine Zeit?»
«Ein wichtiger Besucher. Ich muß ihn am Donnerstag nach Calais begleiten. Er fährt nach London.»
Klaus nickte. «Sie dürfen es niemand weitersagen, aber er ist der zukünftige Chef unseres militärischen Geheimdienstes.»
«Geheimdienst? Spione?» Sie schlug die Hände zusammen, als könne sie es nicht glauben.
Klaus spreizte seine Finger und senkte die Hand, um ihr anzuzeigen, leiser zu sprechen. «Es ist noch nicht offiziell, aber so gut wie. Die Armee will den Einfluß der Zivilisten beschneiden, und Hauptmann Nicolai soll das Ganze übernehmen.»
«Wie aufregend! So eine verantwortungsvolle Aufgabe!»
«Im Kriegsfall gewiß. Aber in unserer friedlichen Welt...»
Sie lachte, ein heller Klang wie von einer kleinen Glasglocke. «In unserer friedlichen Welt... O Klaus, Ihr Deutschen habt doch Kriegspläne. Sie selbst haben es mir erzählt.»
«Alle Länder haben Pläne für einen Krieg. Unser Generalstab hat einen längst überholten Plan, den vom alten Graf von Schlieffen. Aber es wird nicht zum Krieg kommen, wir haben es gestern abend beschlossen.» Er warf den Kopf zurück und lachte laut, aber sein Lachen wirkte gezwungen, fand Marie.
«Wer sind ?»
«Der Militärattache, Hauptmann Nicolai und ich. Bei viel Schnaps und Champagner haben wir beschlossen, daß es keinen Krieg geben wird. Und ganz gewiß nicht mit England, denn die Verwandten von König Eduard regieren fast in ganz Europa. Und Verwandte bekriegen sich nicht. Daher kein Schlieffenplan, kein Durchmarsch durch Belgien, um die Franzosen zu überrumpeln.»
«Belgien ist neutral.» Marie fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte und ihr ein Schauer über den Rücken lief.
«Im Krieg sind alle Mittel recht - und in der Liebe.» Er stand auf und duckte sich neckend wie zum Angriff. «Ich werde ein Einkreisungsmanöver ausprobieren.» Er näherte sich ihr, sie lachte wieder hell auf und nannte ihn einen Narren, dann überließ sie sich seinen Küssen.
Bevor er ging, entrang er Marie ein Versprechen. Am Freitag würden sie sich in einem diskreten Stundenhotel treffen, wo sie vor neugierigen Blicken sicher wären.
Nach Klaus’ Weggang und vor der Rückkehr ihres Mannes schrieb Marie einen Brief an ihren Vater. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß ihre Briefe abgefangen würden, und so schrieb sie ganz offen über die bevorstehende Ankunft von Hauptmann Nicolai in England und die neuen Pflichten, die ihm vom deutschen Oberkommando übertragen worden waren. Zum Schluß bestätigte sie ihm den lang gehegten Verdacht, daß der Schlieffenplan einen Durchmarsch durch das neutrale Belgien vorsah, falls es zu einem Krieg mit Frankreich käme.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite in ihrer kleinen Wohnung trug Monique die Zeit, die Klaus bei Marie Grenot verbracht hatte, in ihren Terminkalender ein. Eine Stunde später sah sie
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