Eine ehrbare Familie
dachte Steinhauer, als er ihr nachsah, wie sie mit einem anderen Offizier verschwand.
«Und wo haben Sie das Früchtchen aufgetan?» fragte Steinhauer, der sich von Offizieren noch nie hatte einschüchtern lassen.
Nicolai lächelte sauer. «Sie ist uns von einem Baum direkt in den Schoß gefallen. Wenn es je Ärger mit England geben sollte, könnte sie uns von größtem Nutzen sein.»
«Ärger mit England?» Steinhauers Herz setzte einen Schlag aus. Eine Sekunde lang dachte er, sie wären seines Spezialagenten habhaft geworden. «Gott schütze uns vor Ärger mit England.»
«Der englische König liegt im Sterben», sagte Nicolai, als erkläre dies alles.
«Ach so?»
«Und was das Mädchen betrifft, so werde ich vielleicht Ihre Hilfe brauchen. Aber erst mal wollte ich mit Ihnen über die Neuorganisation sprechen.»
«Seit Ihre Leute das Ganze übernommen haben, höre ich nichts als Neuorganisationen. Warum beschränkt ihr euch nicht auf den rein militärischen Geheimdienst? Es würde das Leben ungemein vereinfachen.»
Nicolai seufzte. «Ich bin ganz Ihrer Meinung.» Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Aber der Generalstab hat andere Ideen. Tut mir leid, Steinhauer, aber ich habe schlechte Nachrichten für Sie.»
«Und zwar?»
«Die verschiedenen Leute, die Sie so sorgfältig über England verteilt haben, in den Häfen und Werften und so weiter...»
Steinhauer nickte.
«Ich bin angewiesen worden, Ihnen mitzuteilen, daß sie von nun an der Marine unterstehen.»
«Warum zum Teufel...»
«Weil der Generalstab diese Agenten als Marine-Agenten betrachtet, da sie die Werften und Häfen beobachten.» Er zuckte die Achseln. «Sie werden also Ihrer Kontrolle entzogen. Sollte es Ihnen an Arbeit mangeln, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich.»
Donnerstag, der 19. Mai 1910, war der Tag, wie alle Zeitungen bezeugten, an dem die Erde den Schweif des Halleyschen Kometen durchqueren würde. Die Astrologen und die Weltuntergangspropheten maßen dem Ereignis große Bedeutung zu. Der Halleysche Komet wurde als Vorbote des Unheils angesehen, obwohl Beweise für diese Theorie schwer zu erbringen waren.
Es ist unwahrscheinlich, daß das Gewitter in der Nacht vom 18. zum 19. Mai irgend etwas mit dem Kometen zu tun hatte. Es beschränkte sich auf London, aber noch während des ganzen Morgens des 19. goß es in Strömen.
Die Leiche König Eduards VII. lag in der Großen Halle von Westminster aufgebahrt, und trotz des Regens erstreckte sich die Schlange seiner Untertanen, die ihm die letzte Ehre erweisen wollten, über fünf Meilen.
Aber Vernon Kell, Charles Railton, Patrick Quinn und einige seiner Männer - diskret in der Menge verteilt - befanden sich nicht mal in der Nähe von Westminster Hall.
Sie hatten den strömenden Regen vermieden und sich in aller Frühe auf dem Victoria-Bahnhof postiert. Quinn und seine Leute hatten seit des Königs Tod dort ihren Dienst versehen, denn alle gekrönten Häupter Europas mit ihrem Gefolge sollten auf dem Victoria-Bahnhof zur Trauerfeier eintreffen.
Im Zimmer der MO5 im Kriegsministerium wurden während der Stunden, die auf Sprogitts mitternächtlichen Besuch bei Charles folgten, Pläne ausgearbeitet. Quinn war bereits vor Charles eingetroffen, aber voller Ungeduld fortzukommen, da er dringend im Palast gebraucht wurde. Doch er hatte ein Anliegen und beschloß, es trotz seines Zeitmangels vorzutragen.
Er sagte: «Wir müssen mit der größten Ansammlung ausländischer Regierungsoberhäupter rechnen, die wir je gesehen haben. Und ich möchte Ihnen anraten, meine Herren, Ihr Augenmerk auf unliebsame Besucher wie Geheimdienstoffiziere fremder Herkunft zu richten. Wenn Sie es wünschen, stehen meine Männer und ich Ihnen zwecks Überwachung gern zur Verfügung.»
Und so wurden alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, lange bevor die Bevölkerung noch vom Tod ihres Monarchen erfuhr.
Und nun, am Morgen des 19. Mai, standen Vernon Kell, Charles Railton und einige Geheimpolizisten auf dem Victoria-Bahnhof und warteten auf die Ankunft von Kaiser Wilhelm mit seinem Gefolge.
Der neue König, Georg V., vormals Herzog von York, ging, umgeben von seinem Stab, auf dem Bahnsteig auf und ab, scheinbar voller Ungeduld, seinen Vetter, den Kaiser, zu begrüßen. Der rote Teppich war bereits ausgerollt, und rot bezogene Stufen standen bereit, um dem deutschen Kaiser das Aussteigen zu erleichtern.
Im Büro des Stationsvorstehers, das hoch über den zahlreichen Bahnsteigen lag, warteten
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