Eine ehrbare Familie
schwachen Strahlen einer bleichen Sonne fielen schräg aufs Meer, das zu Charles’ Linken lag. Vor ihm erstreckte sich der lange Damm, der zur Straße und zum Hügel führte. Er legte eine kurze Pause ein. Vernon Kell hatte ihm geraten, nicht zu früh zu erscheinen. «Es ist alles ganz einfach», hatte er hinzugefügt. «Sie müssen sich nur an die angegebene Zeit halten. Der Mann, der die «Schlange» genannt wird, wohnt am anderen Ende des Dorfs auf der Westseite des Hügels.» Charles hatte die Landkarte studiert, vom Damm aus würde er ungefähr eine Stunde zum Haus der «Schlange» brauchen.
Er blieb stehen und blickte aufs Meer, dachte über das sich ständig bewegende Wasser nach und lauschte den Wellen, die sich an den Felsen brachen. Dann überquerte er schließlich den Damm und ging gemächlich den Hügel hinauf. Zuweilen wandte er den Kopf, um zu sehen, ob jemand ihm folgte. Als er den Marktplatz erreichte, gingen gerade die Lichter an. Eine schwarzgekleidete Frau eilte aus dem einzigen Lebensmittelladen, drei Männer lungerten vor einer Bar herum. Niemand schien sich für ihn zu interessieren. Obwohl später die Beschreibung eines großen schlanken Fremden bei allen Polizeistationen vorlag.
Es war genau fünf Minuten vor sieben Uhr, als er in die Gasse einbog, wo die «Schlange» wohnte. Er wußte, es war das letzte Haus auf der rechten Seite, und als er sich ihm näherte, kam ein Mann auf ihn zu. Charles sah ihn sich nicht näher an, nahm aber vage wahr, daß der Fremde seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, sehr groß und breitschultrig war und leicht hinkte.
Einige Minuten später klopfte Charles dreimal kräftig an die Tür von Giles’ Vertrauensmann, bereit, sein Kennwort zu geben.
Niemand öffnete ihm, obwohl im Haus Licht brannte.
Er klopfte wieder, dann stieß er mit seinem Stock gegen die Tür. Sie sprang weit auf. Ein würgendes Grauen ergriff ihn.
Die «Schlange» war ein großer, fetter Mann gewesen. Jetzt sah er wie ein grotesk eingeschrumpfter Luftballon aus, der mit Blut und Gedärmen gefüllt gewesen war und den man aufgeschlitzt hatte.
Der kleine, ehemals ordentliche Raum sah wie ein Schlachthaus aus. Blut klebte an den Wänden und floß über den Boden, sog sich in die Vorhänge ein und bildete grausige Muster auf den Bildern. Das Opfer - die «Schlange» - lag zerhackt und verstümmelt in der Mitte des Zimmers. Das Instrument dieser Todesorgie, eine große, scharfe Axt, lag unachtsam fortgeworfen in einer Ecke neben einem umgekippten Tisch.
Charles übergab sich.
Erst als er wieder fast auf dem Marktplatz angelangt war, schossen ihm drei Gedanken durch den Kopf: erstens, daß er als Fremder unweigerlich verdächtigt werden würde; zweitens, daß der Mord erst kurz vor seiner Ankunft begangen worden war; drittens, daß der Mann, dem er in der Gasse begegnet war, einen auffallend langen Mantel getragen hatte. Falls er der Mörder war, müßten seine Kleider unter dem Mantel von oben bis unten mit Blut befleckt gewesen sein.
Die Leiche wurde erst vierundzwanzig Stunden nach der Tat entdeckt. Zu dieser Zeit befand sich Charles schon wieder in England. Später erfuhr er von Quinn, daß in der fraglichen Nacht zwei Fremde in der Umgebung von Rosscarbery gesichtet worden waren. Einer davon war fraglos Charles selbst, der andere offensichtlich der Mann, den Charles kurz in der Gasse gesehen hatte. Eine Woche später fand die Polizei in der Nähe des Hügels von Rosscarbery einen Haufen verbrannter Kleider. Der Mord blieb unaufgeklärt. In einem Bericht jedoch wurde erwähnt, daß einer der halbversengten Knöpfe aus dem Kleiderhaufen möglicherweise auf einen Deutschen als Täter hinwies.
Charles wurde noch monatelang von Alpträumen verfolgt. Er sah immer wieder den verstümmelten Körper und den Mann vor sich, der ihm leicht hinkend auf der engen Straße entgegenkam.
9
Der Winter schlich sich leise davon. Mitte April kamen die Knospen heraus, die Bäume verloren ihr skelettartiges Aussehen und schmückten sich mit einem zarten grünen Filigran. Der Frühling kündigte sich an.
Mildred Railton wies erste Anzeichen ihres Zustands auf, aber Charles war bereits voller Sorgen. Die Idee, daß seine Frau in ihrem Alter noch einmal schwanger war, beunruhigte ihn, besonders da er bis spät abends im Büro der MO 5 arbeitete.
Eines Nachmittags Ende April kehrte Vernon Kell von einer Besprechung in der Admiralität zurück. Er sah verstört aus und sagte, noch bevor er die Tür
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