Eine ehrbare Familie
Quinn, Kell und Railton, Ferngläser in der Hand, während ein stenografiekundiger Unteroffizier geduldig daneben stand, um die Kommentare der drei Offiziere aufzunehmen.
Der Zug fuhr ein. Die bekannte Figur mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart stieg aus und begrüßte ihren Vetter. Sie küßten sich auf beide Wangen. Danach füllte sich der Perron mit dem Gefolge des Kaisers.
Die drei Beobachter streiften den Kaiser nur mit einem flüchtigen Blick. Ihr Interesse galt den Offizieren, die den Kaiser begleiteten.
Einige Gesichter erkannten sie wieder, entweder von früheren Zusammentreffen oder von oft betrachteten Fotografien. Der eine oder der andere der drei nannte laut Namen, die der Unteroffizier pflichtgemäß notierte: Namen von Diplomaten, Ratgebern, Militär- und Marineattaches, Adjutanten.
Quinn marschierte später im Trauerzug als Leibwächter der königlichen Familie mit, während Charles, Kell und der stenografiekundige Unteroffizier in einem leeren Zimmer eines Regierungsgebäudes mit Blick auf den Eingang zur Westminster Hall standen.
Von zwei verschiedenen Fenstern aus beobachteten sie die sich langsam fortbewegende Prozession der Kaiser, der Könige, der Prinzen und Potentaten, der militärischen Eskorten, des Garderegiments, der Kavallerie und der Militärkapellen, der deutschen, russischen und österreichischen Armeeregimenter und der ganzen heraldischen Elite Englands.
Giles beobachtete die Prozession von einem anderen günstigen Platz aus. Und als er dieses einzigartige Schauspiel betrachtete, stieg eine dunkle Vorahnung in ihm auf, die aus seinem hochentwickelten Sinn für Geschichte kam. Der Anblick dieser ganzen Pracht und Macht erinnerte ihn an den letzten Akt einer Oper. Und im Herzen wußte er, daß nichts mehr so sein würde wie früher.
An einem schönen Sonntag im August wurde im Herrenhaus Redhill Wichtiges diskutiert.
Die Wochenendeinladung war Saras Idee gewesen. Giles hatte als einer der ersten die Einladung bekommen und Sara angerufen und sie um einen Gefallen gebeten: «Könntest du Captain und Mrs. Vernon Kell einladen? Er ist der Chef von Charles», hatte er ganz beiläufig gesagt.
Das Wochenende in Redhill war für alle eine willkommene Unterbrechung. Sara hatte keine Ahnung, daß Giles ihre Einladung als Vorwand zu einer Zusammenkunft mit Kell und Charles benutzte, um Geheimsachen zu diskutieren. Auch wollte er Charles aus nächster Nähe beobachten.
Charles hätte fast abgesagt, denn Mildred war in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft ständig müde und von ihren Ärzten angehalten, viel zu ruhen. Aber Mildred liebte Redhill und hatte darauf bestanden, hinzufahren. Zusätzlich hatte Charles seine Tochter Mary Anne, die mit James fast gleichaltrig war, dazu überredet, mitzukommen.
Mary Anne, ein schlankes, lebhaftes Mädchen, deren Augen die Farbe der Nordsee im Winter hatten (eine Beschreibung, die von Andrew stammte), bereitete ihren Eltern schon seit einiger Zeit Kopfzerbrechen.
Sie sollte bald in die Gesellschaft eingeführt werden, aber Mary-Anne widersetzte sich allen diesbezüglichen Plänen. Mildred hatte sogar schon eine Gästeliste für den Einführungsball im Anschluß an die obligate Vorstellung bei Hof zusammengestellt. Aber Mary Anne hatte keinerlei Interesse gezeigt. Und dann, bei einer stürmischen abendlichen Auseinandersetzung, hatte sie erklärt, daß sie sich aus diesem ganzen gesellschaftlichen Brimborium nichts machte und nur ein Ziel im Auge habe.
«Bitte, Mama und Papa», hatte sie mit kühler, sachlicher Stimme gesagt, «ich weiß, daß ich mich auf den Bällen nur langweilen würde. Ich halte diese Vorstellung bei Hof mit allem Drum und Dran für Zeitvergeudung und Geldverschwendung. Ich will Krankenpflegerin werden und später Ärztin. Der Weg zum Arztberuf führt für Frauen nur über die Krankenpflege.»
Charles und Mildred waren aus allen Wolken gefallen.
Sie versuchten, ihrer Tochter den Plan mit allen Mitteln auszureden, aber Mary Anne blieb fest. Alle drei wußten, daß eine endgültige Auseinandersetzung unvermeidbar war, aber im Moment herrschte eine Art Burgfrieden.
Giles spürte die Spannung zwischen der Tochter und ihren Eltern, sagte sich aber, daß dies bei einem so willensstarken jungen Mädchen wie Mary Anne nur natürlich war. Abgesehen davon hatte er keine Zeit, sich um Familienstreitigkeiten zu kümmern.
Giles hatte John seit fast einem Monat nicht gesehen, und sein Anblick beunruhigte ihn. John hatte an Gewicht
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