Eine ehrbare Familie
beiden ein falsches Spiel spielen sollte, würde der andere ihn unwissentlich verraten. Und wenn das geschah...
Am gleichen Tag, dem 28. Juni 1914, trafen sich die Railtons in Redhill.
Charles und Mildred waren da mit Mary Anne, die noch immer darauf bestand, Krankenpflegerin zu werden. Giles traf später ein.
Andrew und Charlotte erschienen allein. Rupert war auf See, Caspar bei seinem Regiment, Roy in London. Als junger Beamter im Foreign Office mußte er Dienst tun. Auf Anweisung seines Großvaters Giles hatte er seinem Vater nicht genau gesagt, für wen er arbeitete.
James und Margaret hatten das Baby mitgebracht, das von allen mit Zärtlichkeiten überhäuft wurde.
Zufällig hatte am Vorabend Dick Farthing angerufen und gefragt, ob er vorbeikommen dürfe. Niemand hatte etwas dagegen, nur Sara schien nicht sonderlich erfreut.
John Railton erwachte in der Früh mit leichten Kopfschmerzen. Er badete, zog sich an und ging hinunter zum Frühstück. Er wirkte gut gelaunt, denn es war ein klarer, schöner Morgen, der einen vollkommenen Sommertag versprach.
«Ich habe Lust, einen Spaziergang zu machen», sagte er nach dem Frühstück. Es war kurz nach zehn. «Kommt jemand mit?»
«Ja, ich, gern», sagte Sara. Sie hatte sich vorgenommen, besonders nett zu ihm zu sein. Sie verdankte ihm so viel. Redhill hatte ihr Leben verändert, ihr Verständnis für ihre Umwelt vertieft. James und Margaret sagten, sie würden nachkommen. Andrew und Charlotte erhaschten einen verliebten Blick, den das junge Paar austauschte, und beide wünschten im stillen, sie wären noch im Stadium der ersten Verliebtheit.
Sara nahm Johns Arm, und sie gingen durch die Balkontüren ins Freie. Die Rosen waren in voller Blüte - eine blutrote Pracht, eingebettet in dunkles Grün. John sagte, es sei die beste Zeit des Sommers, pflückte eine Blüte und gab sie Sara. «Wie wunderschön», sagte sie.
«Sie verblaßt neben dir, Sara. Du bist das Licht meines Lebens.»
«O John, du hast dich an einem Dorn gestochen.»
«Das macht doch nichts», erwiderte er lachend und saugte kurz an seinem Daumen. Dann hörten sie das Geräusch eines Motors. «Das wird Dick Farthing sein», sagte er.
«James und Margaret können sich um ihn kümmern», flüsterte Sara zärtlich. «Laß uns allein hier bleiben. Es ist einfach hinreißend, einen eigenen Rosengarten zu haben.» Sie sog den Duft der Blumen, des Getreides von den Feldern, die Frische der Morgenluft ein. «Nichts ist betörender als die Düfte eines englischen Sommers», sagte sie. Dann runzelte sie die Stirn, als sie James, Margaret und Dick über den Rasen auf sie zukommen sah, und fluchte leise: «Zum Teufel mit ihnen.»
«Hallo, wie geht’s?» rief Dick.
«Er ist in einem Ford Tourer gekommen, stell dir vor!» sagte Margaret lachend.
John Railton hob den Arm zum Willkommensgruß. Doch plötzlich durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Er hörte wie aus weiter Ferne Saras Aufschrei und spürte Arme um sich, die ihn am Fallen hinderten und ihn sanft auf den Boden gleiten ließen.
James kniete neben seinem Vater, Dick stellte sich hinter Sara, die auf beide Knie gesunken war und Johns Kopf in ihren Händen hielt.
«Nichts...» Er wollte sagen, es sei nichts Wichtiges, es würde Vorbeigehen, aber ihm fehlte der Atem.
Trotz der Schmerzen roch er die Süße der Luft, den sanften, lieblichen Duft der schwarzen Nacht, die sich langsam über ihn senkte.
Er hörte nicht mehr den Schrei von James: «Papa! Papa!» Auch nicht seinen tränenerstickten Befehl: «Dick, hol einen Arzt.»
Sara liefen die Tränen über die Wangen, während sie leise wieder und wieder Johns Namen flüsterte.
Der Tod des Generals vor etwas über vier Jahren hatte den Railtons eine Veränderung angezeigt; Johns Tod bedeutete einen Wendepunkt. Doch im allgemeinen Weltgeschehen war sein Tod nur wie eine ironische Randbemerkung in einer griechischen Tragödie, gemessen am Tod zweier anderer Menschen, die ebenfalls an diesem Sommertag starben und damit die Welt aus den Angeln hoben.
Am selben 28. Juni des Jahres 1914 wurden in Sarajewo der Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau, die Großherzogin Sophie, ermordet, eine Tat, die den Lauf der Geschichte änderte. Die Hoffnungen von Millionen Menschen wurden durch die Kugel eines Anarchisten zunichte gemacht.
Zweiter Teil
Juli 1914-Dezember 1915
12
Zwei Wochen nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und dem zufällig gleichzeitigen Tod John Railtons saß Giles im
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