Eine eigene Frau
ersten, aus den schwächsten Gefangenen bestehenden Schwung würde man unverzüglich erschießen, aber die zweite Gruppe würde man ein weiteres Grab ausheben lassen, damit die Hinrichtungen fortgesetzt werden könnten.
Anders und die übrigen schwedischen Freiwilligen machen sich mit der ersten Gruppe auf den Weg. Die Männer des Schutzkorps bleiben als Wache zurück, sie zünden sich Zigaretten an und holen ihren Proviant hervor. Auch die Flasche kreist wieder. Jemand hält sie Arvi hin. Er schüttelt den Kopf und bindet Regina an einer großen Kiefer an, wo das Gras bereits grün wird. Er lehnt sich an den Stamm der Kiefer, löst die Mauser vom Gürtel und legt sie neben sich. Nach einiger Zeit trägt der Wind aus drei Kilometern Entfernung das Geräusch von gleichzeitigen Schüssen aus zehn Militärgewehren herüber. Die nächste Partie hinzurichtender Gefangener wird geholt. Arvi zieht sich die Mütze ins Gesicht, damit er nicht sieht, ob der angeschossene Lauri Lindroos darunter ist. Er weiß, er würde den Blick des Jungen nicht ertragen.
Als bereits die Abenddämmerung einsetzt, werden alle Männer mit der letzten Gefangenengruppe zum Hinrichtungsort kommandiert. Auf dem Weg dorthin kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem es einem Gefangenen gelingt, vor den schon ziemlich betrunkenen Wachmännern zu fliehen. Es ist nicht Lauri Lindroos. Der Junge stellt sich an den Rand der Grube und nimmt die Mütze ab, so wie er es gelernt hat, wenn man einer höheren Instanz gegenübertritt.
Joel, 34
Turku, August 1918
Als er das Urteil des Hochverratsgerichts hört, denkt Joel an den Moment, in dem Orville Wright auf der Sanddüne von Kitty Hawk auf der unteren Musselintragfläche des Flyers lag und die Startschiene entlangraste. Sein Bruder rannte nebenher. Der arme Wilbur, der beim Münzwurf verloren hatte. Seine Aufgabe bestand jetzt darin, den Gleitflieger so lange wie möglich auf der Schiene zu halten.
Wegen der zwölf Sekunden, die auf jenen Moment gefolgt waren, steht Joel jetzt als Angeklagter da, aber in der Urteilsverkündung wird trotzdem kein einziges Wort darüber verloren.
Die Verlesung des Urteils dauert lange. Der Gerichtsdiener gibt monoton die gewundenen Formulierungen der Amtssprache von sich. Joel fällt es schwer, sich aufrechtzuhalten. Die Erdanziehungskraft zieht den von Hunger und Ruhr ausgezehrten Körper dem Steinboden des Bezirksgefängnisses Turku entgegen, der auch jetzt im Sommer kalt ist wie der Tod. Joel richtet den Blick auf den Mund des Gerichtsdieners, besonders auf die Unterlippe, die sich mal zum Strich verhärtet, mal zum Halbmond rundet.
»Hat der Häftling für die Roten Garden agitiert?«
»Ja.«
»Hat er für die Revolution agitiert?«
»Ja.«
»Und gegen die rechtmäßige Regierung?«
»Ja.«
»Hat er falsche Gerüchte über den Krieg verbreitet?«
»Ja.«
»Oder Drohungen gegen Anhänger der rechtmäßigen Regierung?«
»Ja, in sehr scharfer Form.«
Die Vokale des Gerichtsdieners amüsieren Joel immer mehr. Der Lappen, den man ihm gegeben hat, ist klatschnass vom vielen Schweißabwischen. Er schließt die Augen und hört auf das stärker werdende Brummen, das vom Hafen her zu hören ist und bald als lautes Motorendröhnen über ihren Köpfen ertönen wird. Jeden Moment wird die Tragfläche des Macchi M.16 im Tiefflug über das graue Granitgemäuer hinwegrauschen, und der Atem des Propellers Sand aufwirbeln, die Espen und Birken werden ins Schwanken geraten, wenn der Flieger mit vollem Rohr, ohne jede Möglichkeit, das Gas zu regulieren, dem Himmel entgegenrast. Der Flug wird in dem unausweichlichen Moment enden, in dem der Motor ausgeschaltet werden muss und der abschließende Gleitflug zur Landenge Kakskerta ohne Maschinenkraft beginnt.
»Hat der Häftling während des Krieges weitere Verbrechen begangen, die dem Stab bekannt sind?«
»Er hat als Vorsitzender des Roten Lebensmittelkomitees sämtliche Unterlagen vernichtet.«
Nicht alle, widerspricht Joel bei sich, die Tagebücher sind noch da. Gut aufbewahrt. Aus ihnen geht alles hervor, was man wissen muss.
»War der Häftling an den Entwaffnungen vor dem Krieg und während des Kriegs beteiligt?«
»Ja.«
»War er an Raubzügen beteiligt?«
»Ja.«
Die Stimme des Gerichtsdieners fließt gleichmäßig und farblos dahin. Er hat schon hunderte ähnlicher Anklagen, Verhörprotokolle und Urteile verlesen. Die gleichen Fragen. Die gleichen unter Eid geleisteten, die Wahrheit verfälschenden
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