eine Elfenromanze
überreicht haben, schob sie den Deckel hoch. Und beinahe ließ sie die Schachtel fallen. Darin lag fein säuberlich zusammengelegt ein Kleid aus kostbarster Seide.
Selina riss entsetzt die Augen auf. „Das ... das kann ich nicht annehmen“, stotterte sie. „Das muss ein Vermögen gekostet haben!“
Harras winkte ab. „Wenn das Eure Sorge ist, so kann ich Euch beruhigen. Ich weiß, dass es für Euch schwer vorstellbar ist. Ihr müsstet vermutlich ein Jahresgehalt opfern, um Euch ein Kleid wie dieses leisten zu können, und ich muss gestehen, dass es selbst an die Grenzen meines Einkommens ginge. Doch Ihr müsst verstehen, dass Geld für Liones keine Bedeutung hat. Er hat in seinem ganzen Leben keinen Handstreich für das Gold gearbeitet, mit dem er so großzügig umzugehen pflegt. Und solange er keine gravierende Dummheit begeht, wird sich daran nichts ändern. Es belastet seine Börse nicht im Geringsten, wenn Ihr sein Geschenk annehmt.“
Er konnte deutlich sehen, wie Selina mit sich rang. Und er konnte sich die Gründe dafür leicht zusammenreimen. Natürlich wusste er nichts davon, dass Selinas Freundin ihr ins Gewissen geredet hatte, doch auch er kannte den Ruf, den der Mann genoss, dem er verpflichtet war. Auch wusste er seit ihrem letzten Zusammentreffen um das Umfeld, aus dem die Halbelfe stammte. Es war vermutlich das erste Mal, dass sie mit der Adelsgesellschaft, die für Harras mittlerweile Alltag bedeutete, zu tun hatte.
Als Selina nach einer ganzen Weile immer noch verstört das Kleid anstarrte, sagte er: „Ihr braucht keine Angst vor Konsequenzen irgendwelcher Art zu haben, egal, wie Ihr Euch entscheidet. Ihr geht gegenüber dem Hause Emnesthar keine Verpflichtung ein, wenn Ihr das Geschenk annehmt.“
Selina sah zweifelnd zu ihm auf. Sie konnte seine Worte nicht wirklich glauben. Für sie war Geld viel zu sehr mit ihrer Existenz verbunden. Jemand, der ihr solch ein teures Geschenk machte, musste zweifelsohne eine Gegenleistung erwarten.
Harras beschloss, ihr die Entscheidung abzunehmen. Liones hatte ihn beauftragt, Selina das Kleid zu bringen. Der Elf erwartete nicht, dass Harras ihm in irgendeiner Form eine Antwort der jungen Frau überbrachte. „Wenn Ihr Euch entschließt, Liones’ Einladung zu dem Bankett nachzukommen, so findet Ihr in der Schachtel einen Brief. Er enthält die Bitte, Euch für den Abend freizugeben und trägt das Siegel der Grafschaft. Meiner Einschätzung nach wird Eure Wirtin es nicht wagen, sich dagegen aufzulehnen“, erklärte er. „Es hat mich gefreut, Selina. Bis zu unserem Wiedersehen!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Gasthaus.
Selina blieb allein zurück, im Zweifel und gegen ihre Ängste ringend.
Schließlich legte sie den Deckel auf die Schachtel und ging hoch in ihr Zimmer. Dort schob sie das teure Geschenk vorerst unter ihr Bett und ihre Bedenken von sich.
* * *
Selina strich fasziniert über den eisblauen Seidensatin, der weich ihre schlanke Gestalt hinab floss. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Das Kleid passte perfekt.
Einzig mit den dazugehörigen Sandalen konnte sie sich nicht anfreunden. Sie waren ein wenig eng im Vergleich zu ihrem alten, ausgetretenen Schuhwerk, mit dem sie tagtäglich herumzulaufen pflegte. Dünne Riemchen, die hier zwickten und da einschnitten, umspannten ihre Füße. Zum Glück hatte Liones so weit Rücksicht auf ihre gewohnte Lebensweise genommen, dass er ihr höhere Absätze erspart hatte. Selina befürchtete, bald wunde Füße zu bekommen, doch sie würde zumindest nicht Gefahr laufen, sich ein Bein zu brechen.
‚Nur zum Unterhalten’, sagte sie sich immer wieder in Gedanken, während sie ihr Spiegelbild betrachtete. ‚Ich gehe nur hin, um mich mit ihm zu unterhalten. Sobald er zudringlich wird, bin ich weg! An mir wird er sich die Zähne ausbeißen! Ich werde nicht seine Gespielin sein, nicht für diese Nacht und auch für keine andere. Da hat er sich verrechnet, wenn er glaubt, mich mit Komplimenten und teuren Geschenken um den Finger wickeln zu können!’
Die Tür wurde aufgerissen und Ria kam hereingestürmt. „Selina, was ist los? Bruna sagte mir eben, du arbeitest heute nicht in d... w... Was ...?“ Ihre Augen wurden groß. „Wie siehst du denn aus?“, rief sie, als sie den ersten Schreck verwunden hatte, und lief aufgeregt um ihre Freundin herum. „Wo bei all den Dämonen hast du dieses Kleid her?“ Sie hielt inne und starrte die Halbelfe entsetzt
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