Eine Familie für Julianne
bin ich ja durcheinander. Und es liegt ja auch nicht direkt an Ihnen, es ist nur …“
Verdammt, wie komme ich hier wieder raus, dachte sie.
„Seit Sie hier sind, kommen eine Menge Dinge an die Oberfläche“, fuhr Julianne schließlich fort. „Und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Wie damals, als ich die Schränke meiner Großmutter ausgeräumt habe, nachdem sie gestorben war. Nur, dass es diesmal keine Schränke sind, sondern mein Kopf.“
Schweigend gingen sie weiter, bis Kevin schließlich sagte: „So was hatte ich mir gedacht. Aber ganz gleich, mit welchen Problemen Sie und Ihr Vater kämpfen, wir beide sollten zumindest Freunde sein, meinen Sie nicht? Schon allein wegen Pippa. Im Moment komme ich ja besser mit Ihrem Vater aus als mit Ihnen, und das macht mir ganz schön zu schaffen, um ehrlich zu sein.“
Julianne öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Ihr ging es ja genauso.
„Ich gebe hier mein Bestes“, sagte Kevin leise.
„Das weiß ich ja“, erwiderte sie traurig. „Ich doch auch.“
Den Rest des Spaziergangs schwiegen sie.
Erst als beide schon fast wieder zu Hause angekommen waren, sagte Julianne: „Sie haben recht. Es tut mir leid.“
„Was?“
„Dass ich vergessen habe, dass es hier nicht um mich geht. Es geht um Pippa. Um ihretwillen sollten wir Freunde sein.“
„Sind Sie sicher?“, fragte Kevin.
„Ganz sicher“, erwiderte Julianne, obwohl es eine Lüge war.
Als Pippa am Samstagmorgen zu gewohnt früher Stunde aufwachte, stand Kevin schon an ihrer Wiege.
„Guten Morgen, meine Süße“, begrüßte er Pippa, nahm sie heraus und wechselte ihre Windel. „Was hältst du davon, wenn wir frühstücken und dann eine Überraschung für deinen Großvater vorbereiten? Na ja, ich werde sie vorbereiten und du kannst zuschauen. Einverstanden?“
Pippa wackelte mit dem Kopf und strahlte, als hätte sie ihn verstanden, und Kevin musste lachen.
Er trug sie in die Küche hinunter, ließ den Hund in den Garten, fütterte die Kleine und setzte sie dann in den Kindersitz.
„Jetzt bist du dran“, sagte er zum ersten Küchenschrank, räumte ihn leer und stellte den Inhalt auf den Esstisch.
„Was um alles in der Welt machen Sie denn?“, fragte Victor eine halbe Stunde später entgeistert, als er in die Küche kam.
Kevin stellte die Schranktür, die er gerade gelöst hatte, vorsichtig auf den Boden und drehte sich dann zu ihm um. Wie immer trug Victor ein kurzärmliges Leinenhemd, Kakis und Sandalen.
„Es ist einfacher, die Türen abzumontieren, wenn man sie abbeizen will. Haben Sie vielleicht zufällig ein Schleifgerät? Dann wird die Oberfläche nachher besonders schön. Ach ja, und ich habe gerade Kaffee aufgesetzt, falls Sie welchen möchten.“
Victor zwinkerte ein paarmal, dann sagte er: „Ich habe Sie nicht darum gebeten …“
„Ich weiß. Aber es muss ja gemacht werden, oder? Es sei denn, Sie haben es sich anders überlegt?“
„Das nicht. Es ist nur …“ Victor runzelte die Stirn. „Warum?“
Kevin drehte die nächste Scharnierschraube los und grinste. „Ich glaube, man nennt es ‚sich einschleimen‘.“
Mit offenem Mund sah Victor ihn an, dann lachte er auf. „Sie sind wirklich zu viel für mich.“
„‚Genug‘ wäre mir eigentlich lieber. Das versuche ich ja die ganze Zeit zu beweisen. Dass ich genug bin.“
Victor ging zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein. „Genug für wen?“
„Für Sie natürlich. Aber auch für Julianne.“ Als Victor eisern schwieg, fügte Kevin seufzend hinzu: „Ich habe ihr das auch schon gesagt – wenn wir das mit Pippa gut hinkriegen wollen, sollten wir Freunde sein.“
„Aber Freundschaft kann man nicht erzwingen.“
„Das weiß ich. Aber wenigstens kann man ihr eine Chance geben.“
Victor gab einen Schuss Milch in seinen Kaffee. „Und Julie stimmt Ihnen da zu?“
„Sie musste eine Weile darüber nachdenken, aber ja … sie ist meiner Meinung.“
Natürlich erwähnte er nicht, dass er Julianne seit ihrer Entschuldigung immer wieder dabei ertappte, wie sie ihn nachdenklich und ein wenig sehnsüchtig anschaute. Dass sie gerade bei ihm ihre Weiblichkeit wiederentdeckte, schmeichelte Kevin, und er freute sich für sie. Aber er wusste auch, dass sich daraus nichts entwickeln konnte. Was natürlich das Beste war, aber gar nicht so leicht zu akzeptieren.
Schließlich würde Victor ihn, wenn er nur ahnte, dass Kevin in diese Richtung dachte, auf der Stelle hinauswerfen.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher