Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
angebotenen Stuhl, der einzige, der stabil wirkte. Sie lächelte den Kindern zu. Die starrten sie nur an. Sie sahen sich lächerlich ähnlich, hatten die runden Augen ihrer Mutter und ihren hilflosen Ge sichtsausdruck .
Paul stieß plötzlich ein hohes, dünnes Jammern aus, worauf eine Stimme aus dem hinteren Teil des Hauses antwortete. »Kein Grund zu schreien, kleiner Paul. Das Abendessen ist fertig.« Nach dieser beruhigenden Ankündigung wurde eine Tür geöffnet – die zur Küche, wie Mary jetzt sehen konnte – und ein Mann kam mit einem Tablett herein. Er blieb mitten im Gehen stehen, als er Mary sah. Überraschung, Verlegenheit und Besorgnis huschten über sein Gesicht. Sein Gesicht mit dem blauen Auge.
Es war Reid.
Reid, der Maurer.
Reid, mit dem sie gestern über die Baustelle gegangen war, um Geld für die Witwe Wick zu sammeln.
Das Schweigen wurde von einem nervösen Aufschluchzen von Mrs Wick unterbrochen. »Was müssen Sie von mir denken«, fragte sie Mary, »mein Mann noch nicht unter der Erde und ein anderer Mann im Haus? Aber es ist nicht so, wie es scheint, ganz ehrlich nicht. Stimmt doch, Robert?«
Reid wurde über und über rot, und seine Händezitterten, als er das Tablett mit dem Abendbrot auf den Tisch stellte. Trotz seines schuldbewussten Aussehens sah er Mary mit einer gewissen unbeholfenen Aufrichtigkeit an. »Wirklich nicht, Ma’am. Ich bin ein Kollege von Wick – wir sind beide von Beruf Maurer und haben in derselben Kolonne gearbeitet –, und ich bin heute Abend nur vorbeigekommen, um Janey – ich meine, Mrs Wick – ein bisschen mit den Kleinen zu helfen. Ist mächtig schwer für sie gerade: den Mann beerdigen und die vielen Kleinen versorgen.«
Es dauerte einen Moment, bis die Einzelheiten zu Mary durchdrangen. Tatsache eins: Reids Vorname war der gleiche wie der des Babys. Tatsache zwei: Er war vertraut genug mit Mrs Wick, um ganz selbstständig in ihrer Küche Eier zu braten. Tatsache drei: Er schien Mary nicht zu erkennen. Es dauerte ziemlich lang, bis sie das erfasst hatte.
Die Anspannung der Erwachsenen schien sich auch auf die Kinder auszuwirken. Sie waren sowieso schon ungewöhnlich still, doch jetzt wurden ihre runden, blassblauen Augen noch größer, und die Zwillinge steckten beide gleichzeitig ruckartig die Daumen in den Mund. Schließlich riss Mary sich zusammen. Reid hatte »Mark« nicht erkannt. Das war die Hauptsache – das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt zählte. Alles andere konnte warten.
»Euer Essen wird ja kalt, Kinder«, sagte sie, räumte ihren Stuhl und war erfreut, wie natürlich sie klang. »Ihr habt bestimmt Hunger.«
John, der Mutigste, nickte und stürzte an den Tisch. »Spiegeleier!« Das löste die Spannung und die übrigen Kinder stürmten auf Reid zu. Sie waren offensichtlich heißhungrig.
Mrs Wick lächelte Mary nervös zu, als wolle sie feststellen, ob man ihr verzieh. »Sie nennen ihn Onkel Rob, die Kinder. Er ist ein wahrer Segen für unsere Familie.« Plötzlich funkelten Tränen in ihren Augen. »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn getan hätte in der vergangenen Woche.«
Mary nickte, und plötzlich spielte es keine Rolle, wie das Verhältnis zwischen Reid und Mrs Wick war – vorerst wenigstens nicht. »Es ist immer ein Segen, wenn Freunde und Nachbarn in schwierigen Zeiten zusammenstehen«, sagte sie mit gespielt pompösem Ton. »Und deshalb bin ich ja auch hier.« Sie zog Mrs Wick in eine stille Ecke des Zimmers und packte aus: ein Körbchen mit Eiern, gekochtem Schinken, Mohnkuchen. Ein eingewickeltes Stück Butter und ein paar Gramm Tee. Und ganz zuunterst ein schwarzer Trauerflor.
»Mein Gott.« Mrs Wick kamen die Tränen und sie begann diesmal wirklich zu weinen. »So etwas hab ich noch nie gesehen, Mrs Fordham, nie im Leben. Das ist zu gut von Ihnen.« Sie wischte sich die Augen mit einem Schürzenzipfel. »Und die Kinder –« Sie wandte den flehenden Blick wieder Mary zu. »Natür lich bekommen sie fast nie so ein reichliches Abendessen. Das war Roberts Idee, sie mal zu verwöhnen, sie waren ja so niedergeschlagen …«
Mary fühlte sich höchst unwohl. Natürlich freute sie sich, dass sie Mrs Wick die Sachen geben konnte. Die Witwe konnte sie wirklich brauchen. Aber so viel Dankbarkeit für solche Kleinigkeiten – denn was war es sonst? Warum konnten die Wick-Kinder nicht jeden Abend ein Spiegelei bekommen? Es war unrecht, dass sie sich das nicht leisten konnten.
»Janey.« Reids
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