Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Titel: Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Y Lee
Vom Netzwerk:
auch ein stetes Flüstern gut geölter Metallteile hören konnte, die aneinanderrieben.
    Die letzte Treppe, die noch ungefähr fünfzig Stufen hatte, brachte sie in den Glockenstuhl. Dort hingen die Glocken an einer enormen Konstruktion der Dachsparren. Ganz London konnte sich noch an die peinliche und enttäuschende Situation im vergangenenJahr erinnern, als die große Glocke zum ersten Mal läutete. »Big Ben« war mit einer pompösen Parade in den Hof des neuen Palastes gebracht worden, gezogen von sechzehn weißen Pferden. Aber bald danach war sie gesprungen, musste abmontiert und neu gegossen werden. Die Ersatzglocke   – die weiterhin »Big Ben« genannt wurde   – war aufgehängt worden. Doch angesichts der Frage nach der Sicherheit auf dem Bau lag es in der Verantwortung von James zu entscheiden, wann die Glocke das nächste Mal geläutet werden konnte.
    Die vier Viertelstunden-Glocken waren nach menschlichem Maßstab riesig. Doch sie erschienen winzig, verglichen mit Big Ben. Aus Marys Perspektive war diese Hauptglocke eine dunkle Höhle, in die mehrere Menschen gepasst hätten. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Die Glocke war bestimmt fest verankert, aber James’ Anwesenheit hier deutete auf Zweifel hin. Und die Glocke hatte auch etwas Unheimliches   – dieses Metallungeheuer, das zerborsten, eingeschmolzen und neu gegossen und dann Zeuge eines Todesfalls geworden war.
    Ein kräftiger Luftzug fuhr durch den Glockenstuhl: Die riesigen offenen Bögen an den vier Seiten des Turms ließen das Wetter herein und den Klang der Glocken hinaus. Mary blickte hinunter, und was sie sah, ließ sie nach Atem ringen und automatisch nach der halbhohen Brüstung greifen: die Stadt, die sich in alle Richtungen vor ihr ausbreitete, unendlich riesig und gleichzeitig im Miniaturformat. Alle bekanntenMonumente hatten nur noch die Größe ihres Fingernagels. Sie wurde von einem leichten Schwindelgefühl ergriffen, als sie den Blick über die Dächer schweifen ließ, und wagte kaum zu blinzeln, um den magischen Anblick nicht zu verjagen. Noch nie hatte sie so etwas gesehen.
    Sie warf James einen Blick zu und erkannte in seinem Gesichtsausdruck ihre eigenen Empfindun gen wieder. Er lächelte ihr zu und hätte sicher etwas gesagt   – etwas Zärtliches, etwas Vertrauliches   –, doch Mary fasste sich schnell. Es war zu gefährlich, auf diese Weise mit James zu flirten. Nicht nur aus Angst um ihre Rolle als Mark Quinn, sondern um ihre gesamte Existenz als Geheimagentin. Sie trat von der Brüstung zurück und taumelte etwas. Nicht aufgrund der Höhe, aber das musste er ja nicht wissen.
    »Wie um Himmels willen hat man die Glocke hier hochbekommen?« Ihre Stimme klang übertrieben munter.
    Er sah sie an. Zögerte. Dann sagte er langsam: »Flaschenzüge und Menschenkraft. Direkt hier durch.«
    »Hier« war eine quadratische Öffnung, die ungefähr zwei bis drei Meter breit war. Mary blickte hinein. Es war ein Schacht, der durch die ganze Höhe des Turmes zu laufen schien. »Ist der zur Belüftung?«
    »Genau   – Hauptluftschacht. War natürlich nicht dafür gemacht, aber ich glaube, dass die Architekten keine Ahnung hatten, wie groß die Glocke werden würde.«
    Sie nickte. »Muss ja eine übermenschliche Aufgabe gewesen sein.«
    »Hat Tage gedauert. Verschiedene Arbeiterteams haben sich abgewechselt. Aber das wissen Sie doch alles, Mary, oder nicht? Als Teil Ihrer Hintergrundrecherche?«
    Sie zuckte die Schultern. »Ich höre es lieber von einem Fachmann.«
    »Und um die Pause zu füllen und einem Gespräch aus dem Weg zu gehen?«
    Sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. »Ich muss das alles richtig verstehen. Außerdem, sollten wir uns nicht an die Arbeit machen?«

Fünfzehn
    F ür jemanden in Marys Alter waren Beerdigungen ein seltenes Erlebnis. In den Straßen gab es zwar häufig Leichenzüge: makellose Leichenwagen, gezogen von glänzenden Rappen und gefolgt von einer Schlange Kutschen, die mit schwarzem Tüll geschmückt waren. Je nachdem, wie viel eine Beisetzung kosten durfte, gab es oft auch angeheuerte Totenkläger, die phlegmatisch neben dem Leichenwagen hergingen, und riesige Mengen von Treibhausblumen, die sich auf dem polierten Sarg türmten. Es gab natürlich auch einfachere Beerdigungen   – ein Leichenwagen, der von nur einem Pferd gezogen wurde und dem nur zwei oder drei Kutschen folgten. Aber auch die Kosten eines solchen Leichenzugs konnten eine Arbeiterfamilie in den Bankrott stürzen und die

Weitere Kostenlose Bücher