Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
gerichtet, schien die angespannte Erwartungshaltung nicht zu bemerken.Mit finsterem Blick starrte er blind vor sich hin und seine Gedanken waren eindeutig weit entfernt von dem hässlich kahlen Grab. Die Sekunden dehnten sich endlos. Erst nach einer Minute wurde er durch ein tiefes Knurren von Keenan, das sogar Mary auf der anderen Straßenseite hören konnte, aus seiner Gedankenverlorenheit gerissen. Mit verunsichertem Blick murmelte er etwas – drei, höchstens vier Silben. Mary war geübt im Ablesen von den Lippen, aber durch Harkness’ Vollbart und den Winkel, in dem er zu ihr stand, versagte sie hier. Sie wusste nur, dass es nicht das traditionelle »Ruhe in Frieden« gewesen war. Einen Augenblick später machte Harkness, ohne die Maurer eines Blickes zu würdigen, auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
Die vier Männer sahen ihm ausdruckslos nach. Nachdem nun sowohl ihr Kamerad Wick als auch ihr gemeinsamer Gegner Harkness fort waren, schienen sie ratlos. Sie verließen den Friedhof strauchelnd, ganz anders als mit ihrer vorigen, fast militärischen Disziplin. Dann drängten sie sich in die wartende Kutsche, die sie direkt zum Haus der Wicks zurückbrachte.
Mary ließ sich das Gesehene durch den Kopf gehen. Ein kostenaufwändiges, dennoch mickriges Begräbnis für einen Mann, dessen Tod kaum einer zu bedauern schien. Die Bestätigung, dass Reid an Mrs Wick gelegen war. Harkness und seine ungewöhnliche Anhänglichkeit an einen verstorbenen Maurer, umgeben von dem offensichtlichen Argwohn derFreunde und Kollegen dieses Mannes. Viel war nicht dabei herausgekommen, um es so auszudrücken. Doch irgendwas an der aufgeladenen Atmosphäre – etwas Unausgesprochenes, das hinter den ganzen sorgfältig beherrschten Mienen lauerte – war merkwürdig. Ein Unwetter kündigte sich an. Eine Art Explosion. Und Mary wusste immer noch nicht aus welcher Richtung.
***
Es schien unsinnig, draußen vor Wicks Haus zu stehen, wo der Leichenschmaus gerade begann. Sie sollte eigentlich auf die Baustelle zurückkehren. Dennoch lungerte sie weiter an der Straßenecke herum und beobachtete, wie die Maurer und Mrs Wick – der Reid aus der Kutsche geholfen hatte, nachdem er sich an dem wartenden Lakai vorbeigedrängt hatte – ins Haus zurückkehrten. Die Nachbarinnen waren wahrscheinlich schon drinnen, bereiteten das Essen zu und passten auf die Kinder auf. Die Mahlzeit konnte eine Ewigkeit dauern.
Erst gut drei Stunden später, als es schon dunkel wurde, geschah dann tatsächlich etwas, das allerdings viel dramatischer war, als Mary sich hätte vorstellen können. Am späten Nachmittag waren noch ein paar Freunde eingetroffen und das Geplapper der Leute und Klirren von Geschirr war lauter geworden. Plötzlich allerdings erklangen scharfe, zornig erhobene Stimmen. Ein handfester Streit zwischen Keenan und Reid, der sich weiter steigerte.Einen Augenblick später wurde die Haustür aufgerissen und flog aus einer der Angeln. Zwei Gestal ten torkelten heraus, die aufeinander einschlugen. Mary trat instinktiv zurück und versteckte sich hinter einem Laternenpfahl. Das war total unnötig. Reid und Keenan hätten wohl nicht einmal Königin Victoria bemerkt, wenn sie durch die enge Gasse spaziert wäre.
Es war ein verbissener Kampf, kein bloßes Imponiergehabe, eine Prügelei zwischen zwei Männern, die sich einst vertraut hatten und nun hassten. Keenan war der Größere und hätte im Vorteil sein müssen. Aber Reid kämpfte mit hartnäckiger Entschlossenheit. Selten ging ein Hieb vorbei und jeder Schlag war sorgfältig und klug geplant. Die Schlägerei endete erst, als Mrs Wick aus dem Haus gerannt kam und sich zwischen die beiden Männer warf.
»Hört auf! Hört damit auf!«, rief sie verzweifelt.
Erschrocken fuhren die beiden Männer auseinander, als habe man kaltes Wasser über sie geschüttet.
»Ihr wollt Freunde von John sein und macht so etwas? Ihr kommt in sein Haus und balgt euch wie die Hunde und bringt vor meinen Nachbarn Schande über mich?« Sie war völlig außer Atem und hielt sich eine Hand schützend über den Bauch. »Wie könnt ihr es wagen?«
Reid wollte Protest einlegen und etwas erklären, doch eine scharfe Geste von ihr hielt ihn davon ab. Keenan sah finster auf die Straße und atmete schwer, sagte jedoch nichts.
Die drei Gestalten standen erstarrt wie Salzsäulen auf der staubigen Straße.
Schließlich sagte Mrs Wick mit leiser, zitternder Stimme: »Ihr habt nicht das Recht, über Wicks
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