Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
überlebenden Mitglieder ins Armenhaus bringen. Trotzdem hielt sich die Tradition. Besonders die Armen verzichteten bei einem Todesfall nur ungern auf etwas, was sie sich als Lebende nicht leisten konnten.
Ihre Mutter hatte sich allerdings geweigert, dieHoffnung auf ihren Vater aufzugeben, der auf See vermisst war, und kein solches Ritual anberaumt, mit dem sie seinen Tod akzeptierte. Und als ihre Mutter dann starb, einige Jahre später, hatte Mary kein Geld für einen Sarg gehabt, geschweige denn für einen Trauerzug. Ihre Mutter war notgedrungen in ein Armengrab gelegt worden und Mary hatte die Stelle mit nichts als einem armseligen, selbst gemachten Holzkreuz geschmückt. Damals, als sie noch der Ansicht gewesen war, dass so etwas von Bedeutung war. Sie hatte also beide Eltern verloren und Hunderte von Trauerzügen gesehen, war aber nie bei einer Trauerfeier gewesen. Daher machte sie sich etwas beklommen von der Baustelle nach Southwark auf. Obwohl die gerichtliche Untersuchung vertagt worden war, da man immer noch auf das Gutachten von James wartete, hatte der amtliche Leichenbeschauer die Leiche freigegeben. Das war ein Glück. Obwohl dieser Juli verhältnismäßig kühl war, war es ja schließlich Hochsommer.
Die Straße, in der Familie Wick wohnte – wie lange wohl noch, nachdem der Brotverdiener tot war? –, wirkte schmutzig und schäbig angesichts des ziemlich protzigen Leichenwagens. Er wurde von zwei schwarzen Stuten mit angemessen tristem, schwarzem Zaumzeug und einem seltsam kecken Kopfputz aus schwarzen Federn gezogen. Die Tür des Hauses stand offen und die schwarze Trauerschleife war für diesen bedeutenden Tag erneuert und vergrößert worden.
Alle Nachbarn hingen natürlich in den Fenstern, doch niemand nahm Notiz von dem neugierigen Jungen, der sich eben wie ein typisch neugieriger Junge benahm. Das Haus der Wicks war schon voll mit Frauen, so viel konnte Mary sehen, die in dunkle Farben gekleidet waren, nicht in korrekte Trauerkleidung. Also wahrscheinlich Freundinnen und Nachbarinnen, die nicht zur Beerdigung selbst kamen, sondern halfen, auf das Rudel Kinder aufzupassen. Mary fand eine Stelle an einer Ecke, von der aus sie einen guten Blick auf das Haus und die Besucher hatte, und ließ sich dort nieder.
Sie musste nicht lange warten. Binnen einer halben Stunde kam eine kleine Gruppe Männer die Straße entlang, die gemessenen Schritts hintereinander hergingen. Vorneweg ein großer, zornig dreinblickender dunkelhaariger Mann, dessen schwarzer Anzug viel zu knapp saß: Keenan. Reid folgte in gedecktem Grau. Sein blondes Haar war mit Pomade zurückgekämmt, sodass es viel dunkler wirkte. Die Maurergehilfen Smith und Stubbs waren wie Reid nicht in Trauerkleidung.
An der Tür zögerte Keenan, ehe er eintrat. Er sah aus wie ein Mann, der unbekanntes Terrain betrat, von dem er nur eines sicher wusste, dass es Gefahr bedeutete. Das war seltsam, wenn man bedachte, wie dick er angeblich mit Wick befreundet gewesen war. Mary stellte fest, dass der Tod von Wick nur Keenan aus der Maurerkolonne zusetzte. Bei Reid lagen die Dinge natürlich anders: Seine offensichtliche Zuneigungzu Mrs Wick bedeutete, dass er immer noch der Hauptverdächtige war, wenn man davon ausging, dass Wick eines gewaltsamen Todes gestorben war. Die Maurergehilfen hingegen schienen wenig berührt von dem Tod des Kollegen – zumindest äußerlich. Es war immerhin möglich, dass sie nur ein tapferes Gesicht zur Schau trugen. Doch der markante Kontrast zwischen Keenans schwarzem Traueranzug und den Sonntagsanzügen sprach nicht dafür.
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Nach einer weiteren halben Stunde ging sie wieder auf und die vier Männer erschienen. Jetzt trugen sie gemeinsam den Sarg auf den Schultern. Sie gingen im Gleichschritt, als ob sie diesen präzisen Ablauf sorgfältig geprobt hätten. Hatten sie ja womöglich. Vielleicht war es auch das zufällige Ergebnis von der tagtäglichen gemeinsamen Arbeit. Sie stemmten den Sarg mit geringstmöglicher Anstrengung auf den Leichenwagen und rückten ihn auf eine Art Plattform, die von Blumen gesäumt war. Auf dem Sarg lag ein kleines Arrangement weißer Rosen in Form eines Kreuzes.
Nachdem der Sarg auf seinem Platz stand, kehrten die Männer zum Haus zurück, warteten diesmal jedoch davor, bis die Witwe Wick heraustrat. Das Trauergewand ließ sie noch blasser und dünner erscheinen als zuvor, und selbst aus der Entfernung konnte Mary erkennen, dass es ihr schlecht
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