Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
dass sie einst dazugehört hatte, und um das Wissen, dass es nie mehr so sein würde. Winnie hatte es nicht verdient, so rüde abgewiesen zu werden, aber sie würde bestimmt nie verstehen, wie viel Glück sie hatte.
Mary weinte, wie sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte. Vielleicht wie noch nie. Doch schon während dieses Weinkrampfes wusste sie, dass das nicht so weitergehen durfte. Das musste das letzte Mal sein, dass sie sich so etwas erlaubte – ein Abschiedsweinen sozusagen. Denn nach diesen Minuten der Schwäche musste sie ihre chinesische Seite fahren lassen. Sie würde sie leugnen, sie wegschließen, sie um jeden Preis verbergen, denn die Wahrheitwar einfach zu schmerzlich und zu gefährlich. In der englischen Gesellschaft gab es keine Raum für Mischlinge, und ihre Wahl war einfach: Entweder sie leugnete ihr chinesisches Blut oder wurde für immer ausgegrenzt. Auf keinen Fall wollte sie sich allein über die Herkunft ihres Vaters definieren lassen – und daher musste sie sie ganz opfern.
Es war eine ungute und verabscheuungswürdige Wahl. Aber es war besser, wählen zu können, als ein Schicksal aufgezwungen zu bekommen. Allmählich ließ ihr Schluchzen nach. Die Tränen versiegten. Sie wischte sich das Gesicht, so gut es ging, mit der Innenseite ihrer Jacke. Dann holte sie tief Luft und machte sich erneut nach Westminster auf.
Fünfundzwanzig
A m Sonntagmorgen hatte das
Pig and Whistle
etwas von einer gut besuchten Kirche: sauber, blitzblank, und alle Besucher waren zum gleichen Zweck versammelt. Die meisten Tische waren von ruhigen Dreier- oder Vierergruppen besetzt, einige Herren waren allein da, lehnten am Tresen und tranken still vor sich hin. Die Wirtin, eine rosige, vollbusige Frau mit einem Häubchen, wischte nicht vorhandene Spritzer vom Schanktisch.
Mary begrüßte sie mit dem vereinbarten Code. »Einen Schoppen für einen durstigen Jungen, bitte.«
Die Wirtin wies sie ans Ende des Schanktischs und stellte nicht nur ein Glas Bier vor sie hin, sondern gab ihr auch einen Zettel, einen Bleistiftstummel und etwas Abgeschiedenheit. Nur ein überaus neugieriger Zeitgenosse hätte mitbekommen können, wie ein kleiner, abgerissener Junge eine Nachricht schrieb, und zwar mit viel weniger Mühe, als man von so einem Kerlchen erwartete.
Für die Nachricht benutzte sie einen einfachenCode – leicht zu merken und schnell zu entschlüsseln –, der für den Unbeteiligten nach einer beliebigen Zahlenreihe aussah. Marys Botschaft war knapp:
Verdächtiger H unter einer Decke mit K u. R. Noch keine Beweise gegen W. Bitte um Anweisung.
Nachdem sie fertig war, trank sie aus. Ehe sie darum bitten konnte, stand ein neues Glas vor ihr, und der alte Krug wurde entfernt, zusammen mit dem Zettel. »Schön langsam trinken, Junge«, sagte die Wirtin bestimmt. »So ein gutes Bier genießt man und stürzt es nicht runter.«
Mary befolgte ihren Rat. Sie war ja bisher keine große Biertrinkerin gewesen, aber sie gewöhnte sich schnell an den bittersüßen Geschmack. Da sie weniger aß als jemals zuvor und das bei einer Arbeit, die mehr körperliche Kraft erforderte, als sie es gewohnt war, erkannte sie in ihrem täglichen Bier schnell eine Form von Nahrungsmittel. Harkness war doch nicht ganz bei Trost, seinen Arbeitern das Bier vorzuenthalten. Woher sollten sie genug Energie zum Arbeiten gewinnen?
Eine große Hand schlug ihr auf die Schulter. Da stand Octavius Jones und grinste zu ihr hinunter. In der anderen Hand hielt er einen Halbliterkrug. Er setzte sich auf Hocker neben ihr und seine schläfrigen grünen Augen waren amüsiert zusammengekniffen. Amüsiert und … forschend.
Mary versuchte ihren Schrecken unter Kontrolle zu bringen. Er hatte nicht gesehen, wie sie ihre Nachricht geschrieben hatte; darauf hatte sie sorgfältig geachtet.Er musste danach aufgetaucht sein. Trotzdem, in seinem Blick lag ein wissendes Funkeln, das ihr gar nicht gefiel. »Mr Jones«, sagte sie mit möglichst tiefer Stimme.
»Der kleine Quinn. Was für eine Überraschung, dich an diesem übel riechenden Sonntag in meiner Stammkneipe anzutreffen. Übrigens habe ich schon an dich gedacht …«
Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, wie es ein Junge wohl bei so einer Bemerkung tun würde. »Ich hab nichts angestellt.«
Seine Hand lag noch immer auf ihrer Schulter, und als sie ihn abschütteln wollte, nahm er sie nicht fort. Er zog eine Augenbraue hoch – etwas, das er eindeutig für eine
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