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Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Titel: Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Y Lee
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Schlafengehen, eine ungeheure Anspannung und ein Zimmergenosse, der so schnarchte, dass die Wände des klapprigen Hauses von Miss Phlox wackelten   – das alles war kein Rezept für Nachtruhe. Wenn sie einem Verfolger gegenübertreten wollte, so sagte sich Mary, dann lieber in dieser belebten Straße. Vor allem, wenn es sich um Keenan handelte.
    Sie fuhr herum, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Sah keine fünf Meter hinter sich direkt in ein Paar Augen. Dunkle Augen. Vertraute Augen. Nachdem sie eine Weile ungläubig gestarrt hatte, fand Mary ihre Stimme wieder. »Winnie? Warum verfolgst du mich?«
    Das Mädchen zitterte, ihre Wangen wurden leuchtend rot. »Es   – es tut mir leid.« Sie versuchte sich zu sammeln, ohne großen Erfolg. »Ich   – ich hab nur   – gedacht   –«
    »Was hast du gedacht?«, schrie Mary sie fast an. Doch nach einem Blick auf Winnies Gesicht nahm sie sich zusammen. »Tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst einjagen.« Welche Ironie: Die Beute entschuldigtesich beim Verfolger. Doch Winnie sagte immer noch nichts. Sie starrte sie an wie das Kaninchen die Schlange und lief immer heftiger rot an. »Du hast mich überrascht, das ist alles«, sagte Mary so sanft wie möglich.
    Winnie nickte. Sie fummelte an ihrem Ärmel herum und versuchte den Mut aufzubringen, etwas zu sagen. Sie trug nicht ihr übliches Kleid, ein braunes Ding mit zu kurzen Ärmeln. Heute hatte sie ihren Sonntagsstaat angelegt, ein leuchtendes Blau, das ihr gar nicht stand. »Gehst du deine Freunde besuchen?«, fragte sie mit piepsiger Stimme.
    »Ja.« Mary hoffte, dass diese Unterhaltung nicht lange dauern würde. Vielleicht sollte sie doch lieber den hartgesottenen, frechen Jungen geben. Mit Höflichkeit vertrödelte sie bestimmt eine halbe Stunde.
    »In St. John’s Wood?«
    »Schon möglich. Ich hab viele Freunde, weißt du.« Sie sah sich um, als sei sie in Eile.
    »Dachte ich mir.«
    Aber Winnie sah so verzweifelt aus, dass Mary ein Einsehen hatte. »Du kannst mir nicht nachlaufen, Winnie. Das ist nicht sicher.«
    »Ich bin dir nicht nachgelaufen! Ich wollte   – ich wollte nur fragen   –« Dann holte sie tief Luft und ließ eine Tirade los, so schnell, dass Mary sie kaum verstand. Offensichtlich hatte sie diese Rede geübt. »Würdest du gerne mit mir zum Sonntagsessen nach Poplar kommen, in unser Haus? Es gibt immer richtiges Essen, chinesisches Essen, nicht den Mist, den es bei MissPhlox gibt, und meine Mutter kann richtig gut kochen, und mein Vater ist gerade auf Landurlaub da und   – ach, es würde dir bestimmt ganz gut gefallen. Es würde dich an   – na ja, an dein Zuhause erinnern und so.«
    Eine Minute lang dachte Mary ungläubig, dass sie träumte. Vielleicht einen Albtraum. Die Vorstellung von Winnies Sonntagsessen   – eine chinesische Familie, ein chinesisches Mahl   – war wie ein heftiger Schlag in die Magengrube, eine Kombination aus Angst, Abneigung, dem Gefühl der Unzulänglichkeit und Eifersucht.
    Diese blöde Winnie, die fremde Jungen zu sich nach Hause einlud.
    Diese gemeine Winnie, die eine Familie hatte, die sie besuchen konnte.
    Diese selbstgewisse Winnie, die ihre Familie für so toll hielt.
    Diese glückliche Winnie, die überhaupt eine Familie hatte.
    Mary sah in das rosige Gesicht des Mädchens mit dem hoffnungsvollen und schüchternen Blick. Und die Kenntnis dessen, was Winnie in Poplar hatte   – eine Mutter, die eine gute Köchin war, einen Vater, der von der See heimkam   –, bewirkte auf einmal, dass sich Mary ganz kalt und taub fühlte. »Geht nicht. Hab was zu erledigen.«
    Und sie machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.
    ***
    Sie weinte. Wieder einmal.
    Mary verkroch sich in eine kleine Gasse und versuchte den Tränenschwall zu unterdrücken. Manchmal kam es ihr vor, als hätte sie nie aufgehört. Aber trotz der unverhofften Abgeschiedenheit   – und wenn es nur in einer kleinen Hintergasse war   – beruhigten sich ihre Gefühle nicht, sondern wurden eher überwältigender, und sie heulte laut los. Sie krümmte sich zusammen, kauerte sich an eine staubige Mauer und weinte bitterlich. Um ihre Mutter, die tot und beerdigt war. Um ihren Vater, vermisst und vergessen. Und vor allem um sich selbst. Um Mary Lang, das Mischlingskind, Tochter eines chinesischen Matrosen und einer irischen Näherin. Sie weinte um ihre glückliche Kindheit zu jener Zeit, als ihre Eltern noch lebten, und um die Schreckenszeit nach ihrem Tod. Sie weinte um das Wissen,

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