Eine Frage der Balance
»Mein Oheim Knarros hat Nicks Mutter als seine Schwester angenommen.«
»Wann war das?« Ich hätte auch gern gefragt Warum, aber ich wußte, darüber würde Rob mir keine Auskunft geben.
»Vor fünfzehn Jahren, bevor sie das Imperium verließ.«
»Dann ist Janine also tatsächlich eine Bürgerin von Koryfos?«
Rob nickte eifrig. »Gebürtig aus Thalangia.«
Dies aus dem Mund eines Kentauren mußte die Wahrheit sein. Etwas hatten wir also erreicht. Doch Nick war auch weiterhin verschlossen wie eine Auster, keine vielversprechenden Aussichten für unsere bevorstehende Zusammenarbeit. Will signalisierte mir mit den Augen, daß er der gleichen Ansicht war. Ganz plötzlich fühlte ich mich todmüde. Ich bedeutete Will mit einem Kopfnicken, er solle die Befragung fortsetzen, nahm frische Wäsche aus der Schublade und flüchtete ins Badezimmer, um zu duschen und mich umzuziehen. Danach fühlte ich mich erheblich besser, auch wenn ich meinen abgesengten Stirnhaaren nachtrauerte. Ich strich Salbe auf meine Verbrennungen und kehrte ins Zimmer zurück.
Will hatte nichts ausrichten können, das sah ich auf den ersten Blick. Rob schaute seelenvoll drein und Nick verdrossen. Ich ging zum Kühlschrank und suchte mir aus dem Sortiment ein Fläschchen Brandy heraus. »Auch einen Schluck, Will?«
Will trinkt so gut wie nie Alkohol. »Nicht vor einer großen Gramarye«, sagte er, »aber du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen.«
Nach dem ersten himmlischen, glutvollen, wärmenden Schluck drehte ich mich um und wünschte mir, ich könnte Rob mit der Nachricht von Knarros’ Tod aufrütteln - er mußte es ohnehin irgendwann erfahren -, aber wegen Nicks Anwesenheit hielt ich es für besser, ihn statt dessen mit Maree zu konfrontieren.
»Weißt du, was mit ihr passiert ist?« fragte ich und deutete auf den Rollstuhl.
Robs Blick richtete sich widerstrebend auf die kleine, gebeugte, ausgeblichene Gestalt. »Ist sie entseelt worden? Ich habe gehört, sie verlieren dann alle Farbe.«
»Richtig. Maree wurde entseelt. Überdies öffnete das Tor sich in das Herz eines Vulkans, und das nicht etwa aus Versehen. Ihr e andere Hälfte wurde zerstört.« Während ich einen zweiten Schluck nahm, schaute ich über die kleine Flasche hinweg auf Rob und hoffte, daß es mir gelungen war, seine Fassade aus geheuchelter Unschuld zu erschüttern. Er sah wieder blaß und elend aus, aber diesmal wirkte es echt.
Leider brachte genau in diesem Moment der Zimmerservice ein Riesentablett mit Cheeseburgern, einer extragroßen Schüssel Chips sowie eine imposante Kanne mit dem ausgezeichneten Kaffee des Hauses. Ich gab dem Jungen ein großzügiges Trinkgeld; nach all den Sperenzchen des Nodus hatte er es verdient, obwohl mir bei dem
Gedanken, was dieses verlängerte Wocnenende mich kostete, ein kalter Schauer über den Rücken lief. Als ich das Tablett hins tellte und Rob anschaute, hatten seine braunen Wangen wieder eine gesunde Farbe, und er trug die selbstgefällige Miene von jemandem zur Schau, der glaubt, sich erfolgreich aus einer unangenehmen Situation herausgewunden zu haben.
Warte nur, mein Lieber, ich bin noch nicht fertig mit dir! dachte ich.
Doch fürs erste waren wir alle vollauf d ami t beschäftigt, unseren Hunger zu stillen, sogar Nick, der - wie ich erwartet hatte - dem Duft nicht widerstehen konnte und sich über die Chips hermachte. Maree hingegen mochte zu unser aller Kummer nichts essen. Nick brachte sie dazu, wenigstens etwas stark gesüßten Kaffee zu trinken und bewies dabei überraschende Geduld, ermunterte sie, redete ihr gut zu, während Will und Rob mit gesundem Appetit ihre Portion verputzten. Es war schon ein besonderer Anblick, einen Kentauren auf mein Bett hingelagert zu sehen, halb bedeckt vom malerischen Faltenwurf meiner Decke, wie er genüßlich mit vollen Backen kaute. Kentauren genesen nicht nur schnell, sie müssen auch viel Nahrung zu sich nehmen.
Entenküken anscheinend ebenfalls. Ich hatte sie glatt vergessen und war im ersten Moment völlig verdutzt, als zwei gelbe Flaumbällchen aufgeregt zirpend unter meinem Bett hervorkamen. Will fütterte sie mit Brotstückchen und Chips. Auf Maree übten sie eine erstaunliche Wirkung aus. Sie richtete sich auf, beugte sich vor und folgte dem lebhaften Trippeln der Vögelchen mit den Augen. Sogar ein schwaches Lächeln trat auf ihr eingefallenes, wachsbleiches Gesicht. Natürlich, fiel mir ein, sie wollte Tierärztin werden. Unübersehbar hatte eine Liebe zu
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