Eine Frage der Balance
Junge, Nick, sagte, er wolle mit mir reden. Ich habe bis jetzt keine Ahnung, worüber, aber was es auch gewesen sein mag, es rechtfertigt keinesfalls die Gefahr, in die sie sich begeben haben! Sie hätten entseelt werden können oder in eine Konjunktion geraten. Will und mir wäre dann nur noch übriggeblieben, ihre Einzelteile aus fünf verschiedenen Universen zusammenzuklauben.«
»Ich nehme an, davon sollten sie nichts erfahren«, bemerkte Stan.
»Sie sollten überhaupt nichts erfahren«, antwortete ich säuerlich, »nur daß ihnen mein Bruderherz in seiner unnachahmlichen Art alles über Magids erzählt hat. Alles, was ich noch tun konnte, um die Situation zu retten, war, den großen bösen Wolf zu spielen und sie mit einem Bann daran zu hindern, ihr Abenteuer herumzuerzählen.«
»Den großen bösen Wolf zw spielen?« Der ironische Unterton in Stans körperloser Stimme war fast greifbar.
»Gut, ich bin immer noch ziemlich wütend«, gestand ich. »Auch auf Will.«
»Mir scheint«, sagte Stan nachdenklich, »daß unser Will einen Grund gehabt haben muß, sie aufzuklären. Ich gebe zu, er ist nicht mit Taktgefühl gesegnet und hat eine große Klappe, aber bestimmt glaubte er, Potential in ihnen zu erkennen. War es nur das Mädchen, das sie beide transferierte, oder hat der Junge dazu beigetragen?«
»Es waren beide gemeinsam. Der Junge ist auf eine stille Art bemerkenswert begabt. Aber zum einen ist er zu jung, und zum anderen ist er das egozentrischste Kind, das man sich vorstellen kann. Ich glaube, Will hat überhaupt nicht nachgedacht. Und ja, ich werde deine Liste zerreißen und ganz von vorn mit der Suche anfangen, sobald ich diese Gramarye zum Abschluß gebracht habe.«
»Dann solltest du für einen Vorrat an Palestrina und Monteverdi sorgen«, meinte Stan. »Mit ihnen werde ich mich als nächstes beschäftigen. Was ist mit der Gramarye? Wird Will herkommen?«
» Im Lauf des Nachmittags. Mit Dakros bin ich erst gegen sechs verabredet, also hat Will reichlich Zeit, um sich zu integrieren. In der Zwischenzeit - tut mir leid,
Stan, aber könntest du ernsthaft über eine Möglichkeit nachdenken, deinen musikalischen Obsessionen zu frönen, ohne die Hotelbelegschaft damit zu erschrecken?«
»Ich kann’s versuchen. Es wird nicht leicht sein, aber ich gebe mir Mühe.«
Ich überließ ihn seinen akustischen Experimenten und kehrte zum Hotel zurück. Für zwölf Uhr war eine Diskussion mit dem Thema: Woran erkennt man gute Fantasy? angesetzt, und ich dachte, ich könnte mir die Zeit vertreiben und mich darüber aufklären lassen. Bis es soweit war, leistete ich mir eine Kanne mit dem ausgezeichneten Kaffee des Hotels und begab mich mit dem Tablett in die Lobby, um ihn dort zu genießen.
Wie immer war der Raum voller Menschen, einige in befremdlicher Aufmachung und die meisten unübersehbar verkatert von den Feten am Abend zuvor. Ted Mallory saß in einer Ecke und schien den größten Kater von allen zu haben; seine Frau neben ihm machte einen gelangweilten Eindruck. Sie trug ein neues Stück aus ihrer erstaunlichen Pulloverkollektion, auf den ersten Blick sah es aus, als hätte sich ein Schwall frisch gezapftes Blut über ihre Schulter und Brust ergossen. Was immer das rote Zeug sein mochte, es glänzte wie eine frische Wunde. Ich wandte hastig den Blick ab und entdeckte Maree und Nick Mallory auf einer Bank unter einem der langen Fenster. Auf dem Weg zu ihnen hinüber fiel mir ein, wie merkwürdig es war, daß die älteren Mallorys sich allem Anschein nach kaum mit den jüngeren beschäftigten. Beim Frühstück gestern war mir natürlich aufgefallen, wie gründlich Janine Mallory ihre Nichte verabscheute, andererseits hatte sie meines Wissens, außer ihm eine Scheibe Toast mit Butter zu bestreichen, nie etwas Mütterliches für Nick getan. Vielleicht einfach deshalb, weil Nick es nicht zuließ; Teenager, besonders männlichen Geschlechts, pflegen empfindlich auf übertrieben mütterliche Fürsorge zu reagieren. Statt dessen schien Nick sich Maree als Bezugsperson erkoren zu haben. Mich erstaunte, daß Janine es duldete, Duldsamkeit schien mir nicht eben ihre hervorstechendste Eigenschaft zu sein.
Wahrscheinlich gab ich mich diesen Spekulationen hin, weil ich mir nicht Rechenschaft darüber ablegen wollte, daß ich im Begriff war, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Ich stellte mein Tablett auf das Fensterbrett und fragte: »Irgend jemand Kaffee? Ich habe hier eine große Kanne voll.«
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