Eine Frage der Zeit
Platz genommen hatten, schweigend je eine Wasserkaraffe und ein Glas aufs Fenstertischchen. Die drei bedankten sich und schenkten ein, tranken zwecks Rehydrierung ihrer geschrumpften Hirnzellen Glas um Glas die Karaffen leer, kippten dann ihre Lehnen nach hinten und fielen in den Schlaf, den sie wegen Kaisers Geburtstag verpasst hatten.
Als Schiffbaumeister Anton Rüter wieder aufwacht, sind die Kopfschmerzen weg. Der Zug hat das Küstengebirge durchquert und fährt über die endlose Weite der Mkattasteppe. Rüter betrachtet anerkennend die elegante Linie der Schienen durchs hügelige Terrain. Er schätzt die Kurvenradien auf minimal zweihundert Meter und die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit auf beachtliche fünfundzwanzig Kilometer pro Stunde. Er stellt fest, dass die Gleise durchgehend ordentlich beschottert sind und dass es in ausreichender Zahl Kreuzungs-, Wasser-und Lokomotivstationen gibt. Wenn eine Holzbrücke hundert oder zweihundert Meter weit über einen Sumpf oder einen Fluss hinwegführt, überschlägt er Materialkosten und Personalaufwand. Und weil er ein erfahrener Arbeiter ist, kann er es in den eigenen Armen und Beinen fühlen, welch unmenschlich harte Arbeit der Bau dieser Eisenbahn gewesen sein muss. Wenn die Strecke einen Hügel durchschneidet, schätzt er ab, wie viele tausend Arbeiter sich dort wie viele Monate lang mit Schaufeln und Pickeln geschunden haben müssen. Beim Gedanken daran schmerzen ihn Finger, Schultern und Rücken, und Schwermut befällt ihn bei der Ahnung, dass in diesem Klima ohne medizinische Versorgung die Männer wie die Fliegen an Entkräftung, Cholera, Malaria, Tsetse-und Schwarzwasserfieber gestorben sein müssen, und dass in den entvölkerten Dörfern die Äcker brachlagen und die zurückgebliebenen Greise und Kinder verhungerten.
Er hört das Peitschenknallen und Kettenklirren, die deutschen Kommandorufe und das Stöhnen der Geschlagenen, das Ächzen der Ochsen und das Knirschen hölzerner Räder auf steinigem Grund, den Klang der Vorschlaghämmer und das kurze, schleifende Zischen der Schaufeln, die Detonationen der Sprengungen und das Wehklagen der Witwen, und das alles vermischt sich mit dem Stampfen der Lokomotive und dem Zweivierteltakt der vorwärts eilenden Räder auf den Schienen, und Anton Rüter fällt zurück in wohltuend unschuldigen Schlaf.
Während die Lokomotive in einen lichten Steppenwald von Schirmakazien einfuhr, ging über der Ebene zerfließend rot die Sonne unter. Rüter schlief. Wendt hing in seinem Polstersessel und nippte an einer Flasche Daressalamer Hefeweizen, das ihm der Steward gebracht hatte. Rudolf Teilmann stand draußen auf der Plattform, hielt die Nase in den Fahrtwind und schaute hinaus auf das wellige, uferlose Grasmeer, aus dem die scharfkantigen, übermannsgroßen Halme des Buschgrases in vereinzelten Büscheln hervorstachen. Da und dort lagen kalkweiße, zerfallende Tierknochen auf ziegelrot schimmerndem Erdboden, gelegentlich ragte ein mächtiger Affenbrotbaum aus der Ebene auf, dann eine jener himmelhoch wachsenden, unglaublich schlanken Fächerpalmen, und dann wieder eine plumpe Sykomore.
An jenem Tag hat Teilmann viele Tiere gesehen. Darüber wird er seiner Frau einen langen Brief schreiben, gleich als Erstes, wenn er am Tanganikasee ankommt. Er hat auch viele Menschen gesehen, aber über die wird er erst mal nichts schreiben. Er hat bisher einundsechzig Giraffen gesehen und mehr Zebras, als es in Papenburg Möwen gibt. Er hat Kuhantilopen gesehen und Strauße, Schabrackenschakale und Swallahantilopen, und er hat sie alle mit großer Sicherheit bestimmen können mithilfe von «Petermann’s Afrikanischem Tierlexikon», das ihm seine Frau zum Abschied geschenkt hat. Er hat Grantsgazellen und Kronenkraniche gesehen, Zwergantilopen und Warzenschweine und zahllose Geier, sogar fünf Marabus und einen Schreiseeadler und dann, kurz vor dem Einnachten, endlich die erste Elefantenherde. Das farbenprächtigste Bild des Tages aber war ein nach Hunderten zählender Schwarm rosaroter Flamingos. Gewiss wird er der Frau auch von den Milliarden Leuchtkäfern erzählen, die seit Anbruch der Nacht die Ebene illuminieren, vielleicht auch von den Pavianen, die mit leuchtenden Augen und in gespenstisch menschenähnlicher Haltung Steine nach dem vorbeifahrenden Zug werfen und dazu derartige Fratzen schneiden, dass man nicht weiß, ob sie lachen oder wütend sind. Das wird er der Frau alles beschreiben, so gut er kann, damit sie sich freut
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