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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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ziehe, unter denen die Herren zurzeit ganz augenscheinlich litten. Die vier Herren nickten, dankten murmelnd für die Belehrung und sehnten die betäubende Wirkung des Opiats herbei.
    Das weite Rund der Hafenbucht lag still im goldenen Morgenlicht. Der dahinter liegende Bahnhofsplatz aber war dicht bedeckt mit einer vibrierenden, summenden Menschenmenge, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die alle redeten, lachten, brüllten und im Staub scharrten, mit hoch über den Köpfen erhobenen Händen gestikulierten und dabei hin und her und vor und zurück wogten und doch immer an Ort und Stelle blieben wie das Getreide im Wind. Anton Rüter dachte an Volksaufstand, Generalstreik, Bürgerkrieg und warf der Gouverneurin einen erschrocken fragenden Blick zu.
    «Die Leute aus dem Negerdorf!», erklärte sie vergnügt. «Die haben den Rauch der Lokomotive gesehen und wollen an den Fahrgästen etwas verdienen. Diese Prüfung müssen Sie jetzt schon durchstehen.»
    Der Kutscher verteilte ein paar Peitschenhiebe, worauf eine Gasse frei wurde und die Pferde noch mal anzogen; aber dann blieb die Kutsche nach wenigen Metern endgültig stecken, und man musste aussteigen. Kaum hatten Rüter, Wendt und Teilmann festen Boden unter den Füßen, drangen die Menschen auf sie ein. Nackte Kinder zupften an ihren Hosenbeinen und bettelten um Kleingeld, fast nackte Frauen zeigten ihre Zähne und legten einen Finger an die Unterlippe, kräftige Männer mit nackten Oberkörpern balgten sich darum, ihnen die Tür aufzuhalten, einen Koffer tragen zu dürfen, den Weg zur Lokomotive zu weisen. Alle schrien und lachten und schubsten und schwitzten und rochen nach den würzigen Speisen, die sie am Vortag gegessen haben mochten, und alle vermengten sich zu einem einzigen Gewimmel baumelnder Glieder in allen Stadien der Vergänglichkeit: schamlos wippende Brüste, unbefangen strotzende Hintern, scharrende nackte Füße, Falten und Furchen und Runzeln, ölig glänzende Rundungen, schwellende Muskeln, Zitzen und Lippen, schwitzende Stirnen, mit Holzpflöcken durchbohrte Ohren, bebende Nüstern und gebleckte, spitz zugefeilte Zähne, ganz zu schweigen vom Anblick vernarbter Striemen, nässender Augen, eiternder Tropengeschwüre und verkrüppelter Gliedmaßen.
    Da der Gouverneur und die Gouverneurin mehr Übung und weniger Skrupel darin hatten, sich eine Gasse durch die Menschenmenge zu bahnen, erreichten sie den Zug mit deutlichem Vorsprung auf die Papenburger. Sie nahmen links und rechts des Treppchens Aufstellung, das hinauf auf die Plattform des Salonwagens führte, und verabschiedeten ihre Gäste. Gouverneur Schnee drückte jedem die Hand, wünschte eine gute Reise und viel Glück. Ada Schnee ließ es sich nicht nehmen, ihren Schützlingen maßgeschneiderte Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Rudolf Teilmann ermahnte sie, kein ungekochtes Wasser zu trinken und nie allein auf die Jagd zu gehen. Anton Rüter schärfte sie ein, dass körperliche Arbeit an der tropischen Sonne für den europäischen Organismus sehr rasch tödlich sein könne und dass man eingeborene Arbeiter stets mit harter, aber gerechter Hand führen müsse. Als aber der junge Wendt an die Reihe kam, hob sie nur die rechte Braue, schaute ihm zwei oder drei Sekunden in die Augen und sagte: «Passen Sie gut auf sich auf.»
    Pünktlich mit dem achten Glockenschlag der katholischen Kirche zog die Lokomotive an. Zum Abschied spielte die Askari-Kapelle unter Oberleutnant Göring noch einmal «Heil Dir im Siegerkranz». Ada Schnee winkte und zeigte ein letztes Mal ihre unvergleichlich weißen Zähne, und der Gouverneur stand daneben und salutierte müde, bis der Zug hinter den Eisenbahnwerkstätten und dem Elektrizitätswerk in einer Kokosplantage verschwand.
    Im Innern des Salonwagens war es brütend heiß, aber die Moskitogitter an den Fenstern siebten das grelle Sonnenlicht zu angenehmem Dämmer. Anton Rüter sank auf der linken, schattigeren Seite des Wagens in einen der Polstersessel, die sich nachts zu komfortablen Liegebetten ausziehen ließen, und wandte seinen vom Opium müden Blick den vorüberziehenden Palmenstämmen zu. Bald wichen die Palmen, wie von Gouverneur Schnee angekündigt, einem fast heimatlich anmutenden Laubwald, den die Kolonisten Sachsenwald getauft hatten, und dann wand sich der Zug hinauf in die küstennahen Puguberge. Ein schwarzer Steward in weißer Uniform betrat den Salonwagen und stellte Rüter, Wendt und Teilmann, die hintereinander auf der Schattenseite

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