Eine Frage der Zeit
er einfach wieder der junge Wendt vom Umländer Wiek sein, der ein bisschen beim Arbeiterkulturverein mitmacht und für sein Alter schon ordentlich was auf der hohen Kante hat. Es ist ihm klar, dass sein Aufstieg in den Geld-und Erbadel nur in Afrika gültig ist, und dass die Rückfahrt nach Papenburg eine Heimkehr ins Proletariat sein wird. Ebenso klar ist ihm, dass beides Unrecht ist, sein temporärer sozialer Aufstieg wie der unausweichliche Niedergang; um das zu wissen, hätte er nicht den Grundkurs in marxistischer Geschichtstheorie absolvieren müssen, den der Schlosser Röleke jeden Winter im Jugendvereinshaus hält. Ob und wie sich der goldene Helm des Gouverneurs ins Gedankengebäude des Historischen Materialismus einfügen lässt, und ob die wund gescheuerten Schlüsselbeine der Kettensträflinge ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus sind, weiß er zwar nicht. Aber er weiß, wie er selbst ab sofort zu all dem steht: Er wird seine Schuhe von jetzt an selbst putzen. Er wird sich nicht die Finger schmutzig machen, indem er zum Sklavenhalter wird. Er wird sein Bett selbst machen und für sich selbst kochen und seine Hütte selbst sauber halten. Er wird nicht die Seite wechseln. Dass er hier mehr Geld verdient als jemals zuvor in der Meyer Werft, das geht in Ordnung; schließlich gibt er ein Jahr seines Lebens hin, nimmt weitab der Heimat Gefahren in Kauf und wird viele Stunden unter mühseligsten Bedingungen arbeiten. Dafür steht ihm etwas zu. In diesem Augenblick bemerkt er, dass der Steward noch immer vor ihm steht und wissen will, ob er ihm ein Hefeweizen bringen soll. Wendt steht auf, legt dem Mann im Vorübergehen die Hand auf die Schulter und sagt: «Lass mal, ich hol’s mir schon selbst. Wo hast du’s denn versteckt?»
5
Das lang ersehnte Telegramm
Als Oberleutnant Geoffrey Spicer Simsons Leben endlich die so sehnsüchtig erwartete Wendung nahm, saß er in Banjul im Mündungsdelta des Gambia-Flusses auf der Veranda seines Pavillons in einem Korbsessel. Es war Montag, der erste Tag seiner allmonatlichen Erholungswoche. Der Abend jenes 11. Mai 1914 war mondlos, aber sternenklar, die Stunde der schlimmsten Moskitoplage vorüber. Er hatte sich einen Sherry eingeschenkt und lagerte seine gestiefelten Füße auf der Brüstung der Veranda. Seine Frau Amy saß neben ihm und strickte, unbeirrt von den Tenue-Vorgaben des tropischen Klimas, einen Cardigan für ihren Ehemann. Die zwei Hausboys standen beidseits der Veranda und wedelten mit großen Palmfächern, um dem Ehepaar die Illusion eines Luftzuges zu vermitteln. In den Kanälen ringsum lärmten Millionen von Fröschen, zwischen den Bananenstauden blinkten die freundlich erleuchteten Fenster der benachbarten Pavillons herüber. Deren Bewohner waren britische Kolonialbeamte, fast alle verheiratet und ungefähr gleichen Alters und gleichen Standes wie die Spicers; da die meisten zudem kinderlos waren oder ihren Nachwuchs des Klimas wegen in englischen Internaten zurückgelassen hatten, herrschte im Gouvernementsviertel ein reges gesellschaftliches Leben mit häufigen gegenseitigen Einladungen zu Barbecues und Teekränzchen und abendlichen Cocktailpartys – ein Leben, von dem die Spicer Simsons leider ausgeschlossen waren, weil sämtliche Nachbarn nach und nach den Kontakt zu ihnen abgebrochen hatten. Die Gründe dafür waren vielfältig, beruhten aber alle auf Missverständnissen, Vorurteilen und beidseitiger Uneinsichtigkeit.
Der Nachbar zur Linken beispielsweise hatte kein Verständnis dafür aufbringen wollen, dass Spicer nachmittags gern splitternackt im Fluss badete, und zwar mitten im Wohnviertel und unter den Augen zahlreicher Hausfrauen britischer Herkunft und angelsächsisch-calvinistischer Schamhaftigkeit. Auf des Nachbars Bitte hin, Spicer möge doch wenigstens auf die vorgängige Gymnastik am Ufer verzichten, bei der sein reich tätowierter Körper besonders ausgiebig zur Geltung kam, antwortete ihm dieser kalt, dass seine physische Fitness im übergeordneten Interesse der königlichen Marine stehe und deshalb höher zu gewichten sei als die Prüderie unterbeschäftigter Beamtengattinnen – worauf der Nachbar nach einem Augenblick der Fassungslosigkeit seinen aufwallenden Zorn niederrang und Spicer höflich ersuchte, unter keinen Umständen je wieder sein Grundstück zu betreten und sich in der Öffentlichkeit von ihm und seiner Gattin fernzuhalten.
Auch der Nachbar zur Rechten nahm eine
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