Eine Frage der Zeit
belanglose Meinungsverschiedenheit zum Anlass, die Brücken zu den Spicers abzubrechen. Es geschah eines Sonntags beim Nachmittagstee, als Spicer seine chinesischen Abenteuer zum besten gab und nebenher seitenweise aus den Schriften des Konfuzius rezitierte – und zwar nicht auf Englisch, sondern in einem Idiom, das er als Chinesisch bezeichnete. Zufällig begab es sich aber, dass jener Nachbar ebenfalls in China gedient hatte, und zwar fünfzehn Jahre lang, und in dieser Zeit ganz ordentlich Kantonesisch gelernt hatte. Als er Spicer stirnrunzelnd fragte, ob sein konfuzianischer Vortrag denn in Kantonesisch, in Ost-oder West-Mandarin oder einer anderen chinesischen Sprache gehalten sei, bedachte dieser ihn mit einem müden Blick und einem herablassenden Lächeln. Und als der Nachbar erklärend hinzufügte, dass es eine chinesische Landessprache genauso wenig gebe wie eine europäische, wandte Spicer sich wortlos den Damen zu und hob zu einem Referat über chinesische Heilkunde an.
Besonders unglücklich war das Zerwürfnis mit dem Nachbarn am gegenüberliegenden Kanalufer, denn dieser war der Gouverneur persönlich – ein weißhaariger Gentleman mit Gehstock und starken Augengläsern, der vor vielen Jahrzehnten in Oxford Boxmeister in der Mittelgewichtsklasse gewesen war. Ihn hatte sich Spicer in aller Unschuld zum Feind gemacht, indem er ihm an Silvester 1911 mit hochgekrempelten Ärmeln die technisch korrekte Ausführung des Uppercut auseinandersetzte und seine Belehrungen derart unbeirrt fortführte, dass der Gouverneur kurz vor Mitternacht die Fassung verlor, Gehstock und Augengläser beiseite legte und Spicer anbot, ihm gleich einen technisch korrekten Uppercut zu verpassen, wenn er nicht augenblicklich die Klappe halte.
So war es um Spicer Simson in Gambia nach und nach – wie überall auf der Welt, wo er sich jemals niedergelassen hatte – einsam geworden. Dabei war er ein aufrichtiger Mensch, der zeitlebens niemanden betrogen, hintergangen oder ernsthaft belogen hatte, und waren es lauter Kleinigkeiten und Lappalien, derentwegen sich die Kleingeister von ihm abwandten; aber leider waren in Gambia wie überall auf der Welt die Kleingeister derart überwältigend in der Überzahl, dass das Ehepaar Spicer Simson schon im zweiten Dienstjahr zu keiner Menschenseele mehr den geringsten außerdienstlichen Kontakt hatte. Ehefrau Amy trug ihr Los mit tapferer Gelassenheit. Sie war in Victoria, British Columbia, als Tochter eines Rechtsanwalts aufgewachsen und hätte es sich nie träumen lassen, dass sie je in einem Pavillon auf Stelzen wohnen würde, und dass schwarze Negerjungs sie im Einbaum zum Einkaufen paddeln würden; aber sie bewahrte Haltung und hielt inmitten von Brüllaffen und Krokodilen die Errungenschaften britischer Lebensart hoch. An jedem einzelnen Tag des Jahres kochte sie zum Frühstück Speck und Bohnen, und nachmittags servierte sie auf der Veranda Tee und Kekse – auch dann noch, als längst niemand mehr zu Besuch kam. Ihre Röcke und Spicers Uniformen waren stets frisch gebügelt, und den Pavillon verteidigte sie mithilfe zweier Eingeborenenmädchen unermüdlich gegen Schlingpflanzen, Kakerlaken und Termiten. Wenn sie ihren täglichen Ausflug zur Markthalle, zum Bäcker und zum Metzger machte, grüßte sie freundlich nach links und rechts und wurde ebenso freundlich zurückgegrüßt; denn die Damen und Herren der kolonialen Gemeinde ließen Amy deutlich spüren, dass der gesellschaftliche Bannstrahl nur Oberleutnant Spicer, nicht aber ihr selbst galt. Besonders die Beamtengattinnen ließen sich gern auf eine kleine Plauderei mit ihr ein, um sich die Wartezeit auf dem Postamt oder beim Friseur zu verkürzen. Sie nannten Amy «meine Liebe» und erkundigten sich nach ihrem Befinden, flochten nadelspitze kleine Andeutungen über ihre unglückliche Lage ein und versprachen ihr – unter Freundinnen – grausam mitfühlend jede nur denkbare Unterstützung, wirklich jede, ein Wink würde genügen, falls sie jemals welche benötigen sollte. Und wenn Amy sich loyal ahnungslos stellte, vom Wetter zu reden anfing und die Damen zum Tee einlud, lächelten diese süß und hatten es plötzlich sehr eilig.
Amy hielt zu Spicer in treuer Freundschaft. In fünf Ehejahren hatte sie ihn gründlich kennen gelernt und war ihm unerschütterlich von Herzen zugetan; denn sie wusste, dass in ihm nichts Böses und nichts Schlechtes lag. Natürlich war er ein eitler, flunkernder Geck – aber nur, weil er sich nicht
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