Eine Frage der Zeit
der Gemeinheit, der Gewöhnlichkeit und der Langeweile des Alltags ergeben wollte. Insofern war Amy sogar stolz auf die Quichoterien ihres Mannes: Sie verstand sie als Revolte einer im Grunde edlen Seele gegen den gemeinen Kompromiss, gegen das bequeme Arrangement mit der Macht der Umstände und gegen die schleichende Kretinisierung, welche die allermeisten Menschen im mittleren Lebensabschnitt erfasst. Gewiss erschwerte diese dauernde Auflehnung den Alltag des Ehepaars erheblich; andererseits war Spicer als Ehemann wenig anspruchsvoll, weil er in seiner kindhaften Ichbezogenheit nur schlichte und überschaubare Bedürfnisse hatte, die zu stillen Amy leicht fiel. Das wusste sie zu schätzen. Mit Schaudern dachte sie zuweilen an die bizarren Extravaganzen, zu denen sich dem Vernehmen nach die Männer anderer Frauen verstiegen, die äußerlich die bravsten Biedermänner waren und gerade deshalb die größten Ungeheuerlichkeiten ausheckten, um sich selbst lebendig zu fühlen. Wenn übrigens ihre Ehe bisher kinderlos geblieben war, so einzig deshalb, weil Amy das so wollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihre Kinder nicht hier in Gambia, sondern erst nach der Heimkehr in London zur Welt zu bringen. Bis dahin würde es ihr nicht schwer fallen, Spicers männliche Begierden im Gleichklang mit den Zyklen des Mondes und ihres weiblichen Körpers zu halten.
Und Spicer selbst? Der machte sich über all das nicht allzu viele Gedanken. Wer waren diese Nachbarn schon, dass sie ihm das Schwimmen im Fluss verboten? Leute mit Ärmelschonern waren sie, Leute mit Haarfön und Rentenanspruch, Leute mit Samtkragen, Hämorrhoiden und tief hängenden Augenbrauen. Dass diese Leute jedes seiner Worte auf die Goldwaage legten, erstaunte ihn nicht, und es war ihm gleichgültig. Ost-oder West-Mandarin, Kantonesisch, Uppercut – was waren schon Worte. Wenn das die Dinge waren, die für die Leute zählten – ihm kam es auf ganz anderes an. Was dieses andere war, vermochte er freilich nicht zu sagen, da es sich ihm in seiner Lage nicht darbot. Wie hätte er das Größere, Schönere, Edlere benennen sollen, solange er mit beiden Füßen im modrig stinkenden Schlamm des Gambia-Flusses steckte, auf dem sich seit Anbeginn der Zeit nichts weiter ereignet hatte als das ewige Einerlei von Zeugung, Niederkunft und Fäulnis? Solange er hier gefangen war, konnte er unmöglich sagen, worauf es ihm ankam. Also blieb ihm nur das Warten auf den Augenblick der Erlösung und die Zuversicht, dass dieser schon kommen werde.
Der Augenblick kam also an jenem Samstag, 11. Mai 1914, an dem Geoffrey Spicer Simson abends auf der Veranda seines Pavillons Sherry trank und Amy ihm einen Cardigan strickte. Sein altersschwaches Dampfboot lag fest vertäut im Hafen, die vier Negerjungs waren bei ihren Frauen und Kindern, und die zwei fiebergeschüttelten Iren betranken sich wahrscheinlich irgendwo. Es war das Ende eines ruhigen, ereignislosen Tages, wie die Spicers im Gambia-Delta schon viele erlebt hatten und aller Voraussicht nach noch viele erleben würden. Draußen in der Welt aber war Dramatisches geschehen, von dem Spicer nichts wissen konnte. Im Berliner Reichstag hatte Karl Liebknecht die Kriegsvorbereitungen der deutschen Regierung angeprangert. Albanien hatte mobil gemacht und wartete auf den Krieg gegen Griechenland. In Sankt Petersburg streikten hunderttausend bolschewistische Arbeiter. In Paris feierten die Sozialisten ihren Sieg bei der Wahl zur Nationalversammlung, und in London besprach Sir Winston Churchill, Erster Lord der Admiralität, mit König George V. die Notwendigkeit einer weiteren Flottenaufrüstung. Am Abend jenes Tages also saß Oberleutnant Spicer in seinem Korbsessel und trank Sherry, als sich aus dem Dunkel der Palmenallee eine Gestalt löste und rasch näher kam. Die Gestalt war ein Negerjunge, den Spicer vom Sehen kannte; ein Bote vom Postamt, der ihm gelegentlich die Post brachte. Das war sonderbar, denn an jenem Tag war kein Postschiff eingetroffen und nach Spicers Kenntnis auch kein Überseedampfer.
«Mister Spicer», rief der Negerjunge atemlos, als er am Fuß der Treppe angelangt war, «Kabelbrief für Sie!»
Spicer fuhr hoch.
«Aus London», sagte der Negerjunge.
Spicer sprang in zwei großen Sätzen zur Treppe, nahm das Telegramm entgegen und riss den Umschlag auf. Absender war das Marineministerium. Geheimer Befehl, höchste Dringlichkeitsstufe, verdeckte Teilmobilmachung. Spicer sollte seine hydrographischen Arbeiten sofort
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