Eine Frage der Zeit
abbrechen, den privaten Haushalt in Gambia auflösen und schnellstmöglich nach London zurückkehren. Spicer hieß den Negerjungen warten und setzte eilig ein Telegramm auf, in dem er seine Ankunft in London binnen zehn Tagen ankündigte.
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Wendt’s Biergarten
Fünftausendfünfhundertdreiunddreißig Kilometer östlich, in Kigoma am Ufer des Tanganikasees, schrieb am selben Abend Anton Rüter ebenfalls einen Brief, und zwar nach Papenburg an seinen Patron Joseph Lambert Meyer.
«… kann ich Ihnen mitteilen, dass unsere Arbeit gut vorangeht. Die Spanten sind alle oben, Deckstringer und Schergänge sind auch fertig. Am 19. April, also am Sonntag nach Ostern, haben wir angefangen, die A-Platten zu legen. Unterdessen sind sämtliche B-und C-Platten gelegt, von den D-Platten fehlen hinten noch zwei an jeder Seite. Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, dass bisher alles sehr gut passt, was für uns jeden Tag eine Freude ist. Beim Nieten sind wir flott zugange, die Schotten sind bald fertig, und am Boden haben wir auch schon allerhand Nieten geschlagen. Ob wir bis August fertig werden, kann ich Ihnen noch nicht sagen, das hängt vom Nieten ab.»
Anton Rüter saß an einem selbstgezimmerten Tisch vor seinem Haus, das ihm die deutsch-ostafrikanische Eisenbahngesellschaft gebaut hatte und nicht viel mehr war als eine Bretterbude mit Wellblechdach, Moskitofenster und abschließbarer Tür. Die Dämmerung war angebrochen. Er dachte daran, die Petroleumlampe anzuzünden, legte dann aber die Schreibfeder beiseite und beschloss, den Brief am folgenden Tag zu beenden, da der nächste Zug nach Daressalam sowieso erst am Dienstag fuhr. Er lehnte sich in dem Klappstuhl zurück, den der junge Wendt ihm gezimmert hatte, und schaute hinaus auf den meergleichen Tanganikasee, der in unfassbarem Frieden vor ihm lag. Sein Haus stand leicht erhöht auf einer Landzunge, die einen halben Kilometer in den See ragte. Im Norden, Westen und Süden zog sich der See grünlich schimmernd bis zum Horizont hin; das gegenüberliegende Ufer Belgisch-Kongos war vierzig Kilometer entfernt und verschwand im Dunst, und die beiden Enden des lang gestreckten Sees lagen siebenhundert Kilometer auseinander. Weit draußen fuhr still und schwarz eine arabische Segeldhau, nah am Ufer schoss pfeilschnell ein Einbaum mit acht eingeborenen Paddlern dahin. Bald würden die Fischerboote zum nächtlichen Fang hinausfahren, und dann würde der See glänzend erleuchtet sein von den zahllosen Grasfackeln, die die Fischer entzündeten, um die Fische aus dem Dunkel der Tiefe empor zu locken. Am Himmel zog ein Schwarm Flamingos nach Osten, den Bergen entgegen, die im Licht der untergehenden Sonne glühten. Rüter fröstelte. Er ging ins Haus, um seine Jacke zu holen. Noch immer wunderte er sich, wie kühl es im Herzen Afrikas sein konnte. Natürlich hatte er gewusst, dass der See achthundert Meter über Meer lag, und dass der ewig schneebedeckte Kilimandscharo nicht weit entfernt war. Aber dass ein Abend im Mai hier genauso frisch sein konnte wie ein Frühlingsabend in Papenburg, hätte er nie für möglich gehalten. Landeinwärts stand einen Steinwurf entfernt Teilmanns Haus, das genau dieselbe Bretterbude war wie Rüters Bleibe; auf der entgegengesetzten Seite, gegen das Ende der Landzunge hin, stand die Bude des jungen Wendt, in der immer viel Betrieb war. Das Wichtigste aber lag zu Rüters Füßen – das Hafenbecken und die Werft, welche die Eisenbahngesellschaft eigens für die Götzen hatte anlegen lassen. Ein paar Segelboote hatten an der Kaimauer festgemacht, dazu auch ein altersschwaches Dampferchen namens Hedwig von Wissmann, auf das Anton Rüter mit zärtlichem Mitleid herunterblickte, seit er einmal probeweise damit gefahren war. Sie war nur zwanzig Meter lang und vier Meter breit, und sie dümpelte im Wasser wie ein Korken und fing beim geringsten Wellengang fürchterlich zu stampfen und zu rollen an. Ihr Rumpf leckte durch alle Fugen und Ritzen und hätte dringend einer gründlichen Instandsetzung bedurft. Trotzdem tat sie unermüdlich ihren Dienst als Frachter für die Sisalbauern, als Fähre für die deutschen Kolonialbeamten und – in letzter Zeit immer öfter – als Truppentransporter für die kaiserlichen Soldaten. Bei aller Armseligkeit kontrollierte die Wissmann so den ganzen Tanganikasee auf seinen siebenhundert Kilometern Länge, die deutsche Küste ebenso wie die belgische und die britische; denn die Briten hatten
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