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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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vielleicht würde Oberleutnant Horn in letzter Minute ein Einsehen haben und abdrehen, und vielleicht würde, wenn die Schießerei trotz allem begann, wie durch ein Wunder niemand verletzt werden.
    So verging der Tag. Die Nacht kam und verging ereignislos, und am folgenden Morgen stand in der Dämmerung dunkelgrün und furchterregend nah die Küste Belgisch-Kongos. Da rief Oberleutnant Horn:
    «Alle Mann – singen!»
    Anton Rüter traute seinen Ohren nicht. In der gleichen Sekunde brüllten übers ganze Schiff verteilt fünfundzwanzig schwarze und weiße Soldatenhälse: «Jawohl, Herr Oberleutnant!», und dann sangen sie das Deutschlandlied, dass es kilometerweit über den See hallte und am Ufer Schwärme von Vögeln aus den dunklen Wäldern aufstiegen. Die Soldaten sangen sämtliche drei Strophen, und zwar nicht einmal, sondern dreimal, fünfmal, achtmal. Sie sangen auch noch, als eine halbe Stunde später in nordwestlicher Richtung die Rauchfahne der Alexandre Delcommune sichtbar wurde, und sie sangen immer noch, als die Wissmann auf Schussdistanz herangekommen war. Sie hörten erst auf zu singen, als Oberleutnant Horn «Klarmachen zum Gefecht!» schrie. Es gab ein mächtiges Gedränge und Stiefelgetrappel, und untereins war Anton Rüter mittschiffs allein.
    Er lehnte sich steuerbord über die Reling und hielt Ausschau nach der Delcommune, die mit aller Kraft vor der Wissmann floh, dem belgischen Ufer entgegen. Trotzdem verringerte sich die Distanz zwischen den zwei altersschwachen Schiffchen, die vor zwei Wochen noch einträchtig nebeneinander an der Hafenmauer gelegen hatten, fürchterlich rasch – denn das eine hatte in der Zwischenzeit unter Anton Rüters Händen eine Verjüngungskur durchgemacht, und das andere eben nicht. Immer näher kam das belgische Ufer, deutlich war das Mündungsdelta des Lukuga-Flusses zu sehen mit seinen schroffen Klippen links und rechts, dann auch die Ansammlung improvisierter Holzhäuser, welche die Belgier als Albertville bezeichneten, und darüber der dichte, dunkelgrüne Wald. Die Delcommune war in der Flussmündung angelangt und stand still, lag vielleicht schon vor Anker. Die Wissmann war noch etwa zwei Kilometer entfernt.
    Da ließ Oberleutnant Moritz Horn das Fernglas sinken, zog den Dampfregler zurück und brachte die Wissmann zum Stillstand. Das war der Augenblick, da Anton Rüter wieder Hoffnung schöpfte. Gewiss hatte der Oberleutnant, der nun gemächlich die Treppe herunterstieg, Vernunft angenommen und eingesehen, dass man auf der Stelle kehrtmachen und zurück nach Kigoma fahren musste; man musste der überhitzten Dampfmaschine eine Pause gönnen und dann gemütlich heimfahren und tun, als sei nichts gewesen, und die Belgier würden niemals erfahren, wie nahe sie dem Tod gewesen waren. Rüter war sehr erleichtert, dass in letzter Sekunde die Vernunft über den Wahnsinn gesiegt hatte.
    Aber natürlich war das nicht so. Oberleutnant Horn verschwand über den rechten Seitengang zum Bug – und dann bellten auch schon die zwei Hotchkiss-Revolverkanonen, PLACK-PLACK-PLACK-PLACK, JE DREIUNDVIERZIG S CHUSS PRO M INUTE, PLACK-PLACK-PLACK-PLACK, UND DER K ORMORAN FLATTERTE ERSCHRECKT VOM S ONNENSEGEL AUF UND FLOH DEM U FER ENTGEGEN, UND DIE W ISSMANN ERZITTERTE UNTER DEN R ÜCKSCHLÄGEN, ALS HÄTTE SIE EINEN EPILEPTISCHEN A NFALL, PLACK-PLACK-PLACK-PLACK, ZWEIMAL DREIUNDVIERZIG S CHUSS PRO M INUTE, UND RINGS UM SIE HER BILDETEN SICH AUF DEM W ASSER KONZENTRISCHE K REISE, DIE SICH RASCH AUSBREITETEN. D ER A NFALL DAUERTE ZWEI M INUTEN, DANN VERSTUMMTEN DIE K ANONEN. O BERLEUTNANT H ORN TAUCHTE WIEDER MITTSCHIFFS AUF, LEGTE R ÜTER IM V ORBEIGEHEN GÖNNERHAFT DIE H AND AUF DIE S CHULTER UND SAGTE LEISE: « I MMER SCHÖN WEITERHEIZEN, JA?»
    Gerade als die Wissmann wieder Fahrt aufnahm, blitzte aus dem dunkelgrünen Wald über der Lukuga-Mündung ein Feuerlicht. Dann stieg eine Rauchwolke zum wolkenlos blauen Himmel hoch, gefolgt von einem dumpfen Knall und einem hohen, rasch lauter werdenden Pfeifen, und dann schlug eine Granate ins Wasser und explodierte, worauf eine baumhohe Fontäne aufspritzte und aufs Deck der Wissmann niederstürzte. Rüter stand triefend nass knöcheltief im Wasser und klammerte sich, starr vor namenlosem Entsetzen, an die Reling. Es durchfuhr ihn wie glühende Eisenstäbe, als der Oberleutnant auf der Brücke «hipp-hipp!» schrie und die Milchbartsoldaten wie aus einer Kehle «hurra!» antworteten, dann noch mal «hipp-hipp-hurra!» und nochmal

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