Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
dachte Rüter, büßte er bereits für seine Sünden. Vielleicht würde er bis zum Jüngsten Tag Brennholz unter diesen Kessel schieben und den Dampfdruck regulieren, und womöglich würde ihm bis ans Ende aller Zeiten das Deutschlandlied in den Ohren dröhnen.
    Aber dann verschwand das belgische Ufer hinter dem Horizont, und Oberleutnant Horn gab Befehl, das Singen einzustellen. Die Soldaten gehorchten, streckten die Beine aus und schliefen sofort ein. Fliegende Fische begleiteten das Schiff. Der Kormoran, der die Wissmann schon auf der Hinfahrt begleitet hatte, kehrte zurück und landete wiederum auf dem Sonnensegel, zog ein Bein ein und steckte den Kopf ins Gefieder. Anton Rüter nutzte den friedlichen Augenblick, um sich zu säubern und etwas zu essen. Die Sonne versank im See. Die Welt legte sich zur Ruhe, unschuldig wie seit Anbeginn der Zeit. Die Nacht kam, und dann der Morgen. Die Milchbartsoldaten erwachten und frühstückten ein paar Kekse, putzten ihre Gewehre und die Hotchkiss-Kanonen und schliefen dann aus Langeweile wieder ein. Als am Nachmittag das heimatliche Kigoma in Sicht kam, waren Oberleutnant Horn und der Gefreite Rüter die einzigen wachenden Lebewesen an Bord. Oben auf der Landzunge konnte Rüter die Umrisse seines Hauses sehen. In Wendts Biergarten brannte schon Licht. Der Oberleutnant manövrierte das Schiff an die Hafenmole heran und brachte es sachte zum Stillstand, väterlich darum bemüht, den Schlaf seiner Soldaten nicht vorzeitig zu stören. Dann stieg er die Treppe hinunter und nickte seinem Maschinenmeister im Vorbeigehen anerkennend zu.
    «Gute Arbeit, Gefreiter Rüter!», sagte er leise. «Haben sich ordentlich gehalten fürs erste Mal!»
    «Danke, Herr Oberleutnant», sagte Rüter und schämte sich, dass ihn das soldatische Lob freute. Sie legten die Vor-und Achterleine und die Springs um die Poller auf dem Pier. Danach liefen sie die Reihen der Milchbartsoldaten entlang und weckten einen nach dem anderen. Der Kormoran stand immer noch einbeinig auf dem Sonnensegel.
    Anton Rüter ging als Letzter von Bord, über den hölzernen Landungssteg und zwischen den zwei Wache stehenden Askari hindurch. Die Hafenmole fühlte sich gut an unter seinen Füßen; Schritt um Schritt gewann er am Festland die Zuversicht zurück, dass er doch nicht tot war, und dass die Welt noch immer in jenem altvertrauten Zustand war, in dem er sie am Vortag verlassen hatte. Die Mole war solide gebaut, ein gutes Stück echte deutsche Wertarbeit aus Eisenbeton; sollte irgendwann die Menschheit die Fähigkeit entwickeln, den Planeten Erde in Milliarden Stücke zu zerschlagen, würde dieses Mauerwerk intakt durch den Kosmos segeln bis ans Ende aller Zeiten.
    Am Ende des Quais lag die Gepardin Veronika in der Abendsonne, dahinter standen Rudolf Teilmann und Hermann Wendt. Sie nahmen Anton Rüter in die Mitte, gingen mit ihm an der Werft und an der Götzen vorbei, die still in der hereinbrechenden Dunkelheit stand, und stiegen den Hügel hinauf zu Wendt’s Biergarten, in dem weithin sichtbar die Laternen brannten.
    «Wie war’s?», fragte Wendt.
    «Wie soll’s gewesen sein», brummte Rüter. «Bescheuerte Idioten sind’s, alle miteinander.»
    «Ich habe den Kanonendonner gehört», sagte Rudolf Teilmann.
    «Einen Scheiß hast du.»
    «Ich habe den Kanonendonner gehört.»
    «Auf hundertzwanzig Kilometer Distanz?»
    «Ich habe ihn gehört.»
    «Das ist unmöglich, Rudi.»
    «Es wundert mich auch, aber ich habe ihn gehört. Gestern Mittag. Nur leise zwar, aber ziemlich deutlich. Zwei Stunden lang.»
    Rüter schüttelte den Kopf. «Das Deutschlandlied haben sie gesungen, die Knallköpfe. Immer und immer wieder.»
    «Das habe ich nicht gehört», sagte Tellmann.
    In diesem Augenblick flog kreischend ein Schwarm Vögel über ihre Köpfe hinweg. Anton Rüter duckte sich und hielt schützend die Arme über den Kopf.
    «Das waren nur Vögel, Toni», sagte der junge Wendt.
    «Das weiß ich selbst, dass das nur Vögel waren», sagte Rüter. «Was denn sonst. Bin bloß ein wenig erschrocken.»
    Tatsache war, dass sich Anton Rüter vom Tag seiner ersten Feindfahrt an auffällig häufig erschreckte. Pfiff zum Frühstück ein Teekessel, klang das in seinen Ohren wie Granatengeheul. Vernietete Rudolf Tellmann Stahlplatten, hörte Rüter das Trommelfeuer von Hotchkiss-Kanonen. Das leise Knacken des Lagerfeuers hämmerte in seinem Schädel wie das Sperrfeuer ferner Maschinengewehre. Das Tschilpen der Sperlinge, das Miauen der

Weitere Kostenlose Bücher