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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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von Ruhm und Ehre trennten, aber der Unsterblichkeit war er noch nie, auch im brackigsten Seitenarm des Gambia-Flusses nicht, so hoffnungslos fern gewesen. Er war ein kleiner Bürobeamter unter Heerscharen von Bürobeamten. Er trug Schuhe mit abgetretenen Absätzen und an manchen Tagen kein Hemd unter dem Papierkragen, und sein Jackett war an den Ellbogen schon ein wenig fadenscheinig. Er war ein Sklave unter Sklaven, einer von Millionen Namenlosen in Londons uferlosem Lichtermeer, und das Einerlei seiner Tage würde aller Voraussicht nach erst ein Ende finden, wenn er von einem Kutschengaul erschlagen oder von seinem alternden Herzmuskel im Stich gelassen würde. Spicer hastete morgens missmutig und abends müde über die immer gleichen Gehsteige, aß mittags ein Sandwich und trank nachmittags staubig schmeckenden Tee. Seine Arbeit erledigte er gewissenhaft, aber voller Bitterkeit und müden Ekels. Er sichtete Personalakten und füllte Formulare aus, heftete Dossiers, versah sie mit Registernummern und legte sie ab.
    Unendlich weit entfernt war er in diesen Tagen von der großen Tat, der kühnen Entscheidung, der wahrhaft tiefen Empfindung, nach der er sich sehnte. Wenn er in jenem Winter überhaupt eine erwähnenswerte Gemütsregung hatte, so war es Hass – angewiderter, verächtlicher, müder Hass auf seinen Arbeitskollegen. Es war für Spicer unfasslich, dass Major Thompson imstande war, Tag für Tag, Monat um Monat im blumenkohlfarbenen Büro abzusitzen und der Pensionierung entgegenzudämmern. Weshalb verzweifelte der Mann nicht? Wie war es möglich, dass er in Frieden mit sich und der Welt seine unwiderruflich verrinnende Lebenszeit dafür hergab, Handelsmatrosen zur Kriegsmarine zu transferieren? Weshalb hatte er nicht längst seinen Stuhl durchs vergitterte Fenster gestoßen, die Papierberge in Brand gesteckt, den Schreibtisch mit einer Axt entzweigehauen?
    Stattdessen summte der Major zufrieden jahrzehntealte Schlager, füllte mit grotesker Langsamkeit die immergleichen Formulare aus und knabberte unablässig Pistazienkerne. Spicer konnte den Anblick seiner gebleckten Zähne nicht mehr ertragen, und das zischende Geräusch, mit dem er die Pistazienschalen ins Kaminfeuer spuckte, trieb ihn zur Weißglut. Anfangs hatte er ihn noch aus seinem Dämmerzustand zu wecken versucht, indem er ihm einen Schwank vom Yangtse oder aus den Wäldern Kanadas erzählte, oder wie er als Kommandant der HMS Niger eine ganze deutsche U-Boot-Flottille versenkt hatte. Aber der Major hatte immer nur milde gelächelt, «Was Sie nicht sagen» gebrummt und weiter seine Pistazienkerne geknabbert. Spicer hätte ihn töten mögen. Da das aber verboten war und nicht in Frage kam, dachte er, wenn die Stunden besonders zäh vergingen, zuweilen an Selbstmord. Natürlich erwog er nicht ernsthaft, sich ein Leid zuzufügen, dafür liebte er seinen Körper zu sehr. Aber er malte sich gern die melodramatischsten Inszenierungen seines Freitodes aus und spielte sein Begräbnis in den herzzerreißendsten Variationen durch. Das tat ihm in der Seele wohl.
     
     
    Äußerlich war Anton Rüter wieder ganz ruhig, als die Wissmann am Abend des folgenden Tages im Hafen von Kigoma einlief. Seine Knie und die Kinnlade zitterten nicht mehr, die Augen hatten aufgehört zu tränen, und sein Gedärm hatte er wieder unter Kontrolle. Als die Kanonen endlich verstummt waren und Oberleutnant Horn das Schiff zurück auf den offenen See gesteuert hatte, war er allmählich wieder zu sich gekommen. Verwundert hatte er festgestellt, dass er triefend nass war von kaltem Schweiß und Seewasser, und dass ihn alle Glieder schmerzten wie von einer großen körperlichen Anstrengung, und dass er heiser war von den zahllosen Schreien animalischen Entsetzens, mit denen er das Kanonengebrüll beantwortet hatte, und dass er seine Hose beschmutzt hatte. Er fühlte sich, als hätte er im zweistündigen Inferno den Verstand verloren und sei dann irgendwie ums Leben gekommen. Jetzt war er tot, und Oberleutnant Horn war auch tot, und die Milchbartsoldaten waren ebenfalls tot. Zwar saßen sie wieder ordentlich auf ihren Seitenbänken und knabberten Kekse wie die Schulbuben, und Oberleutnant Horn stand zufrieden am Steuer, als sei nichts gewesen. Aber tot waren sie alle, auch wenn der Oberleutnant Befehl zum Singen gab und die Milchbartsoldaten gehorsam das Deutschlandlied anstimmten. Sie waren alle tot und unterwegs ins Jenseits – oder sie waren schon im Jenseits. Vielleicht, so

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