Eine Frage der Zeit
Hafen von Tilbury an der Themsemündung, wurde seine soldatisch-stoische Fügsamkeit ein erstes Mal auf eine harte Probe gestellt. Kaum waren sie dem Zug entstiegen, ließ nämlich Spicer Simson seine achtundzwanzig Mann, die er eben erst einer eingehenden Inspektion unterzogen hatte, schon wieder zur Inspektion antreten. Er führte sie in Formation hinunter zum International Cruise Terminal, wo die großen Linienschiffe anlegten. Dort mussten sie sich mitten im Gewimmel der Passagiere in einer schnurgeraden Reihe aufstellen und mit den Ellbogen Distanz zueinander nehmen, und dann unterzog Commander Spicer erneut Mann für Mann einer eingehenden Musterung, als sei zu befürchten, dass der Zustand der Truppe sich während der anderthalbstündigen Bahnfahrt wesentlich verschlechtert habe.
Gern hätte Hanschell den Commander darauf hingewiesen, dass das militärische Schauspiel, welches das Expeditionskorps einer rasch wachsenden Menge von Schaulustigen bot, der Geheimhaltung nicht unbedingt dienlich sei. Da er sich aber keine geistreiche Bemerkung außerhalb seines Fachbereichs zuschulden kommen lassen wollte, fügte er sich nach überstandener Inspektion kommentarlos in die Einerkolonne und stieg in der sicheren Vorahnung, dass sich bald eine äußerst peinliche Szene ereignen werde, hinter dem Commander das Fallreep des königlichen Postschiffs hinauf, auf dessen Vorschiff gründlich verpackt und fest vertäut die Mimi, auf dem Achterdeck ihr Schwesterboot Toutou stand.
Die Lianstephen Castle war bereit, auszulaufen und Albion hinter einem Schleier aus Nieselregen und Nebel zurückzulassen. Schon machten die Schiffsjungen die Leinen los, und die Stewards liefen durch die Korridore und riefen: «Letzter Aufruf zum Landgang! Muss noch jemand an Land? Letzter Aufruf zum Landgang!» Oben auf dem Hauptdeck aber sah sich Spicers Expeditionskorps plötzlich von einer aufgeregten Menschenmenge umringt. Würdige Bürgersfrauen fuchtelten drohend mit ihren Schirmen, junge Männer traten vor und krempelten die Ärmel hoch, ältere Herren zwirbelten ihre Schnurrbärte. «Das ist ein Postschiff und kein Truppentransporter!», rief ein anglikanischer Geistlicher und hielt sich mit beiden Händen an seiner Hutkrempe fest. «Wir wollen keine Militärs an Bord!», schrie eine dürre, kleine Alte in schwarzem Rock und Witwenhaube. Doktor Hanschell wunderte sich, aber dann verstand er. Die Leute befürchteten, falls Militär an Bord käme, einen Torpedoangriff. Erst im Monat zuvor war die HMS Lusitania mit zwölfhundert Passagieren von einem deutschen U-Boot versenkt worden, weil sie die Laderäume voller Munition hatte. Doktor Hanschell erwog, den Leuten ein paar besänftigende Worte zu sagen, ließ es dann aber bleiben, da dies eindeutig Aufgabe des Commanders war. Hanschell wandte sich nach Spicer um in der Erwartung, dass dieser gleich sprechen werde, und erschrak: Der Commander hatte die Augen geschlossen und lächelte genüsslich. Das war eine Szene, wie er sie liebte. Da war Leidenschaft, Drama, großes Gefühl, und im Epizentrum des Tumults stand kein anderer als er selbst. Spicer genoss das. Er badete in der Angst, in der Wut und im Hass, die sich über ihn ergossen, und er wartete auf den geeigneten Anlass, das Drama dem Höhepunkt entgegenzuführen und seine Widersacher mit einem Schlag zu vernichten.
Der Anlass kam in Gestalt einer hübschen jungen Frau mit dunkelbraunen Zöpfen, feurig schwarzen Augen und einem Säugling im Arm, die mit stampfenden Schritten auf ihn zustürmte. Doktor Hanschell sah, dass die Frau wild entschlossen war und keinesfalls zurückweichen würde, und er wusste, dass sie verloren war. Es gab nichts, was er zu ihrer Rettung hätte unternehmen können.
«Scheren Sie sich von Bord!», spuckte die Frau, und ihre Stimme überschlug sich.
«Guten Tag, Madam», näselte Spicer und sah verträumt hinaus in die dunstige Weite des Ärmelkanals. «Kann ich etwas für Sie tun?»
«Allerdings! Packen Sie Ihre Männer zusammen und scheren Sie sich von Bord. Sofort!»
«Wieso das denn?»
«Auf der Stelle, hören Sie? Ich habe für eine zivile Passage bezahlt und nicht für einen Truppentransport!»
«Ich verstehe, Madam, Sie befürchten einen Torpedoangriff. Nun, dieses Risiko besteht in der Tat, fürchte ich.
Wir befinden uns im Krieg, nicht wahr? Da kann es leider durchaus sein, dass die Deutschen uns auf offener See abschießen und ersäufen, ist es nicht so? Die Hunnen machen bekanntlich keine
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