Eine Frage der Zeit
Durst. Wir durchquerten Gegenden, die entvölkert waren von Schlafkrankheit, Ruhr und Schwarzwasserfieber. Aber Spicer verlor nie den Mut, sondern ging stets zuversichtlich an der Spitze der Karawane. Ich erkannte ihn nicht wieder: Plötzlich war er nicht mehr der großsprecherische Hanswurst, der uns vor aller Welt hundertfach blamiert hatte, sondern ein ruhiger, kluger und umsichtiger Anführer. Spicer war Moses in der Wüste, Alexander in Persien, Cäsar in Gallien, Dschinghis Khan auf seinem langen Marsch. Er prahlte und paradierte nicht mehr, gab nicht den Sonnenkönig und schikanierte keine Untergebenen, sondern versah fleißig, aufmerksam und geradezu demütig seine Aufgabe. Entbrannte in der Karawane ein Streit, so schlichtete er ihn mit salomonischer Weisheit, und war jemand ängstlich oder verzagt, sprach er ihm gütig zu. Nie habe ich einen Menschen gesehen, der glücklicher und näher bei sich selbst war als Spicer in jenen Tagen. Er liebte Mimi, Toutou und die zwei Dampfmaschinen mit zärtlicher Fürsorge, und uns fünftausend Menschen, die wir ihm blindlings vertrauten, war er ein strenger, aber gerechter Vater, der uns mit seiner Ernsthaftigkeit und seinem unbedingten Willen ansteckte. Allmählich umwehte etwas wie ein heiliger Ernst unser Expeditionskorps, und alle, die Spicer auf der Lianstephen Castle noch verlacht hatten, zollten ihm nun unwillkürlich Respekt. Ich will es kurz machen: Spicers Willenskraft ist es zu verdanken, dass wir alle Schwierigkeiten überwanden und Mimi und Toutou unversehrt ans Ziel brachten.
Übrigens sind wir alle immer noch gesund und wohlauf. Dass uns die afrikanischen Krankheiten bisher verschont haben, verdankt die Expedition einerseits der trockenen Jahreszeit, zu einem schönen Teil aber auch, wenn ich das unbescheidenerweise erwähnen darf, mir und meinem Fahrrad. Zwar habe ich mit meinem Doktorkoffer bisher kein einziges Menschenleben retten können, und den Arzneischrank habe ich noch kaum geöffnet, aber mein Fahrrad hat uns alle schon unzählige Male vor einem vorzeitigen Ende bewahrt. Du musst Dir das dergestalt vorstellen, dass Dein Ehemann – immerhin stolzer Besitzer einer erschlichenen Leutnantsuniform und eines in Cambridge hart verdienten Doktortitels – dass ich also an jedem einzelnen Tag der Expedition es als meine wichtigste Aufgabe ansah, nachmittags mit dem Rad ein paar Meilen unter dem afrikanischen Himmel vorauszufahren, um einen Lagerplatz für die Nacht zu finden. Möglichst jungfräulich, von Menschen unberührt sollte er sein, denn die gesündesten Flecken Erde sind nun mal jene, die noch nie eines Menschen Fuß betreten hat. Das ist das ganze Geheimnis unserer Gesundheit: Wo bis zum Horizont kein Mensch zu sehen ist, gibt es auch keine Erreger von Menschenkrankheiten – keine Malaria und keine Cholera, weder Dysenterie noch Diphtherie noch Syphilis. Alte Dschungeldoktorenweisheit. Natürlich war es meiner Popularität nicht gerade förderlich, wenn ich den ganzen Treck am Ende eines langen Tages, als schon das nächste Negerdorf in Sicht war, in dem uns Hirsebier und Hammelfleisch erwarteten, auf meilenweiten Umwegen in einsame, gottvergessene Einöden führte. Zwei oder drei Mal drohten die Männer mit Meuterei und machten Anstalten, mir davonzulaufen; ich hielt sie dann bei der Stange mit einer anschaulichen Schilderung der Krankheitssymptome, die sie nach einem Besuch im Negerdorf zu erwarten hätten.
Vorgestern, am 26. Oktober 1915, sind wir in Albertville, dem wichtigsten Hafen am belgischen Ufer des Tanganikasees, angelangt. Der Ort besteht aus nicht viel mehr als ein paar verwanzten und flohverseuchten Militärbaracken und einem natürlichen Hafen in der Mündung des Lukugaflusses, in dem ein arg zerschossener kleiner Dampfer liegt. Jenseits des Sees in achtzig Meilen Entfernung befindet sich der deutsche Hafen Kigoma, und dort liegt die Wissmann, die wir versenken sollen. Ich hoffe bei Gott, dass das für beide Seiten unblutig über die Bühne gehen wird, und dass wir dann alle heil nach Hause kommen. Das wird aber noch einige Monate dauern, und so lange kann und will ich Dich nicht ohne Nachricht lassen. Es gibt hier einen sehr vernünftigen flämischen Sanitätshauptmann namens Zetterland, mit dem ich mich ein wenig angefreundet habe. Er hat einen Cousin bei der belgischen Botschaft in London und will dafür sorgen, dass mein Brief mit Diplomatenpost an der Zensur vorbei in Deine Hände gelangt. Wenn Du diese Zeilen liest,
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