Eine Frage der Zeit
Kommandobrücke hinaufgestiegen war. «Die Götzen läuft übermorgen zur Jungfernfahrt aus.»
«Nein, das tut sie nicht», erwiderte Rüter.
«Doch, das tut sie. Wir wollen uns nicht mehr streiten, das ist nun vorbei. Die Götzen wird übermorgen um sechs Uhr früh auslaufen, der Gouverneur befiehlt es so.» Von Zimmer reichte Rüter das Telegramm. «Hier bitte, lesen Sie selbst.»
«Das Schiff ist noch nicht seetüchtig, Kapitän. Wir würden beim geringsten Seegang kentern.»
«Schweigen Sie und lassen Sie’s gut sein. Wir werden auslaufen, da ist nichts mehr zu machen. Übrigens werden wir alle mit an Bord sein: Sie und Ihre Pappenheimer genauso wie ich und Oberleutnant Horn und Korporal Schäffler. Alle. Sagen Sie selbst, habe ich nicht recht behalten? Sitzen wir nicht alle im selben Boot?»
«Nur über meine Leiche.»
«Mit Verlaub, Gefreiter Rüter, Ihre Leiche interessiert hier niemanden. Daran sollten Sie sich nun wirklich allmählich gewöhnt haben.»
«Das Schiff wird kentern, Kapitän.»
«Meinen Sie?»
«Beim geringsten Seegang.»
«Das wäre schade. Aber auslaufen werden wir trotzdem, das hängt nun nicht mehr von Ihrem oder meinem Willen ab. In diesem Augenblick, da wir hier so nett miteinander plaudern, ist das dritte Bataillon unter General Wahle mit siebenhundert Askari im Sonderzug hierher unterwegs. Morgen Nachmittag werden die hier am Hafen stehen und darauf warten, dass wir sie zur Südspitze des Sees nach Bismarckburg bringen. Was schlagen Sie vor, Rüter – soll ich den Befehlshaber West um ein paar Monate Geduld bitten? Soll die deutsche Schutztruppe Urlaub vom Weltkrieg nehmen, bis der Herr Schiffbaumeister Rüter aus Papenburg sein Werk vollendet hat?»
«Wir werden es niemals bis Bismarckburg schaffen.»
«Machen Sie’s möglich, Gefreiter. Wir brauchen das Schiff.»
«Nur über meine Leiche.»
«Jetzt lassen Sie mich mit Ihrer Leiche in Frieden, Mann. Und seien Sie nicht immer gleich beleidigt.»
«Kapitän…»
«Ich weiß, Rüter, ich verstehe Sie. Ich teile in allem Ihren Standpunkt und stehe ganz auf Ihrer Seite, haben Sie das wirklich noch nicht verstanden? Aber leider tut das nichts mehr zur Sache. Finden Sie sich jetzt einfach mit dem Unabänderlichen ab und tun Sie, was noch zu tun ist. In exakt sechsunddreißig Stunden und achtzehn Minuten laufen wir aus, ob wir wollen oder nicht.»
In der Morgendämmerung des 9. Juni 1915 hielt am gegenüberliegenden Seeufer der belgische Sergeant Stephane Dequanter Wache bei einer der beiden 85-mm-Kanonen, welche die Küste Albertvilles bewachten. Es war ein kühler und trüber Morgen, und die Nacht war kalt gewesen, und Dequanter war müde, und über dem See lagen Nebelschwaden. Da zeichnete sich im Nebel ein Schemen ab, der größer und schärfer wurde und bald furchterregend schwarz und haushoch sich auftürmend an Dequanter vorbeifuhr. Der Sergeant zückte sein Notizbuch und fertigte von der Erscheinung in den wenigen Sekunden, da sie zu sehen war, eine Skizze an.
Außerordentlicher Rapport.
Heute um 6. 15 Uhr ist ein riesiges deutsches Dampfschiff von Norden her kommend an unserer Stellung vorbeigezogen. Das Schiff hatte ganz die Form eines Hochseedampfers und war gewiss drei bis vier Mal so lang wie die Wissmann. Ladebäume vorne und hinten, möglicherweise Funkantenne am hinteren Mast. Eine Art Geschützturm hinter dem Schornstein. Details waren wegen Nebels nicht zu erkennen. Der Dampfer bewegte sich südwärts mit etwa der gleichen Geschwindigkeit wie die Wissmann. Die eingeborenen Arbeiter sagen, sie hätten das Schiff noch nie gesehen.
Beiliegend eine Skizze des Dampfers.
Der Postenkommandant: S. Dequanter
Tatsache ist, dass die Jungfernfahrt der Götzen ein Desaster war. Laut Gustav von Zimmers Bericht legte sie um sechs Uhr früh ab und kam bis neun Uhr keine halbe Meile voran, weil sie schwer gegen den hohen Wellengang und den starken Südwind zu kämpfen hatte. Da die Dampfmaschinen mit grünem Holz statt mit Kohle befeuert wurden, baute sich nur ungenügender Dampfdruck auf, weshalb das Schiff kaum Vorwärtsschub entwickelte, sondern heftig rollte und stampfte. Da man es zudem aus Zeitmangel unterlassen hatte, ausreichend Ballast zu laden, war der Tiefgang unzureichend, und immer wieder hob sich das Heck derart in die Höhe, dass die Schiffsschrauben frei in der Luft drehten.
Derweil saßen und lagen unter Deck siebenhundert Askari dicht aneinandergedrängt in den
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