Eine Frage des Herzens
aufgewühlten Meer. Der Himmel war wolkenlos, strahlend blau. Bernie sprang vor und fing ihn auf, als er gegen sie taumelte und zu Boden sackte.
»Tom, nein!«
Ein Zittern lief durch seinen Körper, dann lag er reglos da. »Hilfe!«, schrie sie. »Ist da jemand? Hilfe! O Tom … bleib bei mir …«
Doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, niemand, der helfen konnte. Sie waren allein auf der Klippe an diesem kühlen Oktobertag unter dem strahlend blauen Himmel. Bernie umklammerte ihn und küsste seine Stirn, während unter ihnen die Wellen gegen die Felsen brandeten und die salzige Gischt so hoch spritzte, dass sie spürte, wie sie ihr Gesicht netzte, sie auf seiner Haut schmecken konnte. Ihre Lippen bewegten sich unablässig in lautlosem Gebet, als sie ihn wiegte, ihn an sich drückte, als Tom Kelly in ihren Armen starb.
27
D ie Beisetzung fand im Star of the Sea an einem bitterkalten Morgen statt. Schon bei Tagesbeginn war der Himmel bedeckt, dunkle Wolken ballten sich über dem Sund zusammen. Obwohl erst Oktober, war eine kanadische Kaltfront in die Region vorgedrungen; die Temperatur war über Nacht um zwanzig Grad gefallen, so dass sich der Regen, der im Morgengrauen niederging, in Eisregen verwandelte.
Um sechs Uhr morgens war alles mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die Gebäude der Academy, der Kirchturm, der Weinberg, die Steinmauer, die kreuz und quer auf dem Anwesen verlief, die Sträucher und Bäume.
Honor war seit Stunden wach. John litt unter Schlaflosigkeit, seit er von Toms Tod erfahren hatte. Sie hatten sich so nahe gestanden wie Brüder, und die Nachricht war ein Schock für ihn gewesen. Tom, der bei Wind und Wetter draußen gewesen war, vor Kraft strotzte und eine unverwüstliche Gesundheit besaß, war einem Herzanfall erlegen.
»Warum musste es ausgerechnet dort passieren?« John lag auf dem Rücken im Bett und starrte zur Decke, als das graue Licht des anbrechenden Tages durch die regennassen Fensterscheiben sickerte. »Auf diesem Weg, wo weit und breit keine Menschenseele war, niemand, der ihren Hilferuf gehört hätte? Warum hatte sie ihr Handy nicht dabei?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Honor, die neben ihm lag. »Sie trägt es nicht ständig mit sich herum. Sie muss es im Auto gelassen haben, als sie losgegangen sind.«
»Wenn er sofort medizinisch versorgt worden wäre …«
»Ich weiß.«
»Er war erst siebenundvierzig.«
»Unfassbar.« Honors Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, es kommt mir wie ein Alptraum vor.«
»Das geht mir genauso. Ich schaue ständig aus dem Fenster und bilde mir ein, dass ich ihn den Hügel hinaufkommen sehe …«
»Mir graut vor dem heutigen Tag.«
»Mir auch.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss, dann stand sie auf. Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, konnte sie genauso gut Kaffee kochen, um in die Gänge zu kommen. Der Tag würde für alle hart werden. Die Mädchen schliefen noch.
Regis’ Freundinnen waren ins College zurückgekehrt. Seamus und Kathleen wohnten in der Academy, doch die Situation war angespannt. Sie wusste von Regis, dass Kathleen schwanger war, und Seamus wirkte seit der Ankunft geistesabwesend und distanziert. Sie konnte es ihm nachfühlen, er musste zu viel auf einmal verkraften. Kathleens Schwangerschaft und Toms Tod waren Erfahrungen von ungeheurer Tragweite, dazu angetan, die Grundfesten des Lebens zu erschüttern.
Gestern Abend hatte sie zufällig gesehen, wie er alleine zum Strand hinunterging, die Hände in den Taschen vergraben. Er wirkte einsam und verloren, doch seine Haltung hatte auch eine unbändige Wut auf Gott und die Welt ausgestrahlt. Sie hatte ihn gerufen, aber er war einfach weitergegangen. Entweder war er so in Gedanken vertieft, dass er sie nicht gehört hatte, oder er hatte keine Lust gehabt, ihr gegenüberzutreten. Den Empfang, den sie ihrem Neffen bereiten wollte, um ihn im Schoß der Familie willkommen zu heißen, hatte sie sich anders vorgestellt.
Bernie kapselte sich ab, war für niemanden zu sprechen. Sie konzentrierte sich auf die Vorbereitung des Begräbnisses. Honor sah, wie sich ihre Freundin ganz und gar in Schwester Bernadette Ignatius verwandelte, die Ordensfrau, die alles im Griff hatte. Als sie gestern zum Konvent hinübergegangen war, um nach ihr zu sehen, telefonierte sie gerade mit Irland, sich vergewissernd, dass Sixtus, Billy und Niall Kelly mitsamt ihren Frauen bereits auf dem Weg waren. Honor hatte ihr
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