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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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rettete mich ein Blick nach draußen. Genau dort, wo Rex Gildos Cabriolet (in dem jetzt nur ein Chauffeur saß und wartete) geparkt war, entdeckte ich ein Verkehrsschild. Auf diesem Schild standen zwei Wörter: ACHTUNG ANFAHRTSZONE. Anstatt Anfahrtszone las ich jedoch Armutszone. Das Wort half mir augenblicklich. ACHTUNG ARMUTSZONE. Natürlich, ich lebte hier in der Armutszone! Das Wort setzte mich in die Lage, wieder an den Ereignissen teilzunehmen und Beobachtungen über sie zu machen. Der Pressefotograf Hassert schob und drückte ein paar Mädchen nach vorne, so daß zwei oder drei von ihnen fast auf Rex Gildo drauffielen. Genau in dieser von ihm selbst hervorgerufenen Situation hob er seine Kamera und machte ein paar Aufnahmen. Rex Gildo war nett und half den ausgerutschten Mädchen zurück ins Gleichgewicht. Der Pressechef der Schallplattenfirma kam aus dem Zentrum der Armutszone auf mich zu und fragte: Haben Sie nicht Lust, ein Interview zu machen? Nachher, wenn der Trubel nachläßt, ist Rex Gildo gern dazu bereit. Ohne die wunderbaren Segnungen, die das Wort Armutszone in meinem Inneren ausgestreut hatte, wäre ich diesem Anschlag hilflos ausgeliefert gewesen. So aber fühlte ich mich nur gewarnt. Aber gern, sagte ich. Ist gut, sagte der Pressechef, ich werde das Gespräch arrangieren. In Wahrheit schaute ich bereits nach dem Ausgang des Phonohauses. Aus Langeweile betrachtete ich in einem kleinen Spiegel meine Zähne. Sie wurden schon gelb, so fremd fühlte ich mich hier. Ich mußte verschwinden, solange der Trubel mich noch deckte. Unbemerkt schob ich mich hinter dem Rücken der Fans nach vorne. Nur von Frau Finkbeiner hatte ich mich diskret verabschiedet. Ich gehe auch gleich, hatte sie geflüstert.
    Da war ich schon draußen. Auf dem kürzesten Weg eilte ich zurück in die Redaktion. Der Tagesanzeiger wollte das Erscheinen von Rex Gildo schon am nächsten Tag melden. Herrdegen war schon verschwunden, auch Fräulein Weber war nicht mehr da. Zurückgeblieben war nur Herr Frühwirth aus der Wirtschaftsredaktion. Er war an diesem Abend Umbruchredakteur. Er nickte mir auf dem Flur zu und fragte: Wann bringen Sie mir den Rex Gildo? In einer Dreiviertelstunde, antwortete ich. Gut, sagte Frühwirth und verschwand in der Mettage. Ich setzte mich hin und begann zu schreiben: Einen ungewöhnlichen Andrang erlebte das Phonohaus Schober am gestrigen Spätnachmittag. In einem offenen Cabriolet war kein Geringerer als Rex Gildo vorgefahren und erfüllte die Autogrammwünsche von zahllosen Fans. Ich war schon ungefähr mit der Hälfte des Artikels fertig, als mir auffiel, daß Herrdegen mir an diesem Frühabend zum ersten Mal hundertprozentig vertraute. Indem er schon nach Hause gegangen war, verzichtete er auf das Gegenlesen meines Textes. Ich erschrak und las meinen Beitrag, soweit er bis dahin fertig war, dreimal nacheinander durch. Ich konnte keinen Fehler entdecken und schrieb weiter. Knapp vor den Schlußsätzen erschien der Fotograf Hassert und legte mir die fast noch feuchten Rex-Gildo-Fotos vor. Ich wählte ein Bild, auf dem der lächelnde Rex Gildo von erregten Mädchen fast zugedeckt war, ein absolutes Honigbild, wie Herrdegen jetzt sagen würde, ein Foto zum Abschlecken. Auf einem der Fotos war ich selber im Hintergrund zu sehen. Ich nutzte meine Stellung aus und kaufte auch dieses Foto, freilich nur, um es wenig später zu vernichten. Ich wartete ab, bis Hassert gegangen war, dann zerriß ich das Foto und ließ die Schnipsel in den Papierkorb fallen. Ich war mit der Bildunterschrift noch nicht fertig, als die Putzfrau mein Zimmer betrat und mit dem Aufräumen begann, was mir an diesem Abend sogar recht war. So konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie mein Papierkorb geleert wurde und das Dokument meines Zusammentreffens mit Rex Gildo für immer verschwand. Zehn Minuten später brachte ich dem Umbruchredakteur meinen Artikel, das Foto und die Bildunterschrift.
    Kurz nach acht Uhr verließ ich die Redaktion. Ich hatte Verlangen, mit Linda zu sprechen, und ich beschloß, in den »Grünen Baum« zu gehen. In den letzten Tagen war es richtig Sommer geworden. Aus offenen Kellerfenstern drang der Modergeruch der Häuser auf die Straßen. Das Sirrsirr der Schwalben klang begütigend. Nach der Hälfte des Weges fiel ein kurzer warmer Regen herab. Frauen und Kinder flüchteten unter kleine Vordächer. Ich stellte mich zu ihnen und beobachtete flache rote Käfer, die es nur im Sommer gab. Sie krabbelten in großer Zahl

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