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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gemacht, wie wir gelacht haben – wie wir eine Familie waren, denkt sie jetzt –, in diesen Reisetagebüchern hatte sie immer versucht, alles möglichst genau zu beschreiben. Und wenn sie keine Lust zum Schreiben hatte, wenn ihre Hand faul wurde oder ihr die Augen vor Müdigkeit zufielen, stellte sie sich die Jahre vor, in denen sie mit Ilan zusammensitzen würde, an langen Winterabenden mit einem Becher heißen Punsch, beide in karierte Decken gewickelt, und sie würden sich Stellen aus ihren Reisetagebüchern vorlesen, die mit Postkarten, Eisenbahnkarten, Speisekarten, verschiedensten Eintrittskarten zu Vorstellungen und Museen bebildert waren. Das alles hatteIlan natürlich geahnt, einschließlich der karierten Decken, sie war immer so durchschaubar für ihn gewesen. Versprich mir, mich zu erschießen, bevor es dazu kommt, hatte er sie gebeten. Aber das hatte er in Bezug auf so vieles gesagt.
    Warum, fragt sie sich, bin ich mit den Jahren immer weicher geworden und die drei nur immer härter?
    Vielleicht hatte Ilan recht, sie sticht sich wieder mit dieser Nadel, vielleicht sind sie ja meinetwegen so hart geworden. Gegen mich sind sie so hart geworden.
    Richtig weinen täte mir jetzt gut, notiert sie für sich selbst.
    Als sie die Augen aufmacht, sitzt Avram ihr gegenüber, mit seinem Rucksack an einen Felsen gelehnt, ganz in sie vertieft.
    Wenn er sie früher mit diesem Blick angeschaut hatte, zog sie sich sofort vor ihm aus, damit er ungestört bis in ihr Allerinnerstes sehen konnte. Niemandem außer ihm hatte sie erlaubt, so in sie hineinzusehen. Auch Ilan nicht. Doch Avram hatte sie gelassen, wie dieses ekelhafte Wort »ranlassen« sagt; Avram hatte sie immer rangelassen. Überall. Ihm hatte sie sich hingegeben, beinahe seit dem Moment, in dem sie sich kennenlernten, weil sie das Gefühl, den Glauben hatte – ach Ora, schon wieder du mit deinem Glauben, mit deinen Herzenswünschen, Illusionen, lernst du es denn nie? –, dass es da in ihr etwas oder eine Person gab, von der sie selbst nicht wusste, wer die war, vielleicht war es Ora, aber gleichsam in einer anderen Zusammensetzung, ihrem Wesen gegenüber treuer, genauer, und Avram kannte wohl einen Weg, zu ihr durchzudringen, und er war der Einzige, der sie wirklich erkennen und mit seinem Blick befruchten konnte, allein durch seine Existenz. Ohne ihn existierte sie einfach nicht, ohne ihn war das kein Leben, und deshalb hatte er auch ein Recht auf sie.
    So war es, als sie sechzehn gewesen war, und auch mit neunzehn und zweiundzwanzig, doch jetzt reißt sie ihren Blick mit einer scharfen Bewegung von ihm los und schaut weg, als fürchte sie, er könne ihr da plötzlich weh tun, könne sie für etwas bestrafen, sich ausgerechnet dort an ihr rächen. Oder vielleicht entdecken, dass es dort schon nichts mehr gab, dass diese seine Ora vertrocknet und längst gestorben war, zusammen mit dem, was in ihm selbst vertrocknet und gestorben war.
    Still sitzen sie da, verarbeiten, was sich gerade ereignet hat. Ora umarmt ihre Knie, rechtfertigt sich, dass sie auch für sich selbst nicht mehr so zugänglich ist wie früher, dass auch sie selbst sich diesem Ort in sich nicht mehr nähert. Wahrscheinlich ist es das Alter, denkt sie – schon eine ganze Weile ist sie darauf erpicht, zu verkünden, dass sie nun alt werde, als könne sie die Erleichterung nicht abwarten, die mit einer solchen Bankrotterklärung einhergeht –, so ist es doch, der Mensch verabschiedet sich von sich selbst, noch bevor andere sich von ihm verabschieden, er erleichtert sich das, was ihm ohnehin bald widerfahren wird.

    Viel später steht Avram auf, streckt sich und geht Holz sammeln, um ein Feuer zu machen, legt einen Kreis aus Steinen. Ora meint, eine neue Entschlossenheit in seinen Bewegungen zu erkennen, doch sie kennt sich und nimmt sich in Acht: Vielleicht redet sie sich bestimmte Dinge nur ein, hält einen Schatten Avrams für ihn selbst.
    Sie holt ein altes buntes Handtuch heraus, breitet es auf der Erde aus, legt Besteck und Geschirr darauf, zwei überreife Tomaten, eine Gurke, und reicht sie ihm zum Schneiden. Sie hat auch Cracker mitgenommen, Dosen mit Mais und Thunfisch und eine Flasche mit dem Olivenöl, das Ofer mag, aus dem Kloster Dir Rafat. Damit hatte sie Ofer überraschen wollen, und sie hält noch ein paar Überraschungen bereit, mit denen sie ihm im Laufe der Wanderung eine Freude machen wollte. Wo ist er jetzt? Für einen Moment weiß sie nicht, ob sie an ihn denken oder ihn

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